Kinder brauchen Märchen
"Kinder brauchen Märchen", sagt Bruno Bettelheim zu Recht. Natürlich gibt es im Märchen Grausamkeiten, die wir als Erwachse im realen Leben in keiner Weise tolerieren würden. Aber im Gegensatz zu Mutmaßungen vieler Erwachsener machen die Kindern in der Regel keine Angst, weil sie sie völlig anders verstehen als ein Erwachsener - nämlich nicht als äußeren Handlungsvollzug, sondern als quasi innewohnende Konsequenz des Bösen.
Und vor allem - die Grausamkeiten der Märchen machen keine Ängste, sie binden sozusagen Ängste, die ohnehin da sind, aber für das Kind völlig ungreifbar sind.
Und nicht zuletzt: Kinder können in die Märchenfiguren und Szenerien ihre eigenen Lebensgefühle projizieren und sich damit entlasten. Wenn z.B. die Mutter als lieblos, versagend erlebt wird, kann es sehr tröstlich sein, wenn sie eines Tages als Hexe im Ofen endet. Wobei das ein Kind durchaus nicht so konkret meint, wie es im Bild aussieht.
@queequeg Dann frag ich gleich mal... jedes Märchen für jedes Kind?
Klar ist es Aufgabe der Eltern, die Wahl der Märchen zu treffen, da sie ihr Kind kennen. Gibt es eine grundsätzliche Empfehlung deiner Meinung nach, worauf man bei der Auswahl der Märchen achten sollte? also so eine kleine Handreichung...
Wie siehst du das als Therapeut?
Oh prima, vielen Dank fürs Eröffnen!
Tatsächlich kann ich von mir selber sagen, dass ich, wenn ich krank bin und/oder es mir nicht gutgeht, zunächst im Gebet alles vor Gott bringe und für mich wichtige, tröstliche Bibelstellen lese.
Dann aber greife ich auch immer wieder zu meinem uralten Märchenbuch und lese meine Lieblingsmärchen. Das tut mir gut.
Von daher finde ich dieses Thema sehr schön und spannend.
Ich habe im Internet eine Fülle von Texten, Interviews und Videos dazu gefunden, damit möchte ich mich gerne befassen, soweit ich dazu komme.
Als podcasts gibt es einige Märcheninterpretationen von Christa Meves. Soweit ich weiss, ist die alte Dame nicht unumstritten, aber ich höre mir jetzt mal an, wie sie „Der Wolf und die sieben Geisslein“ christlich interpretiert.
Ich bin gespannt, wo mich das hinführen wird, wo die Grenzen einer christlichen Auslegung sind, und was ich hier noch von Euch lernen kann.
Veröffentlicht von: @deborah71jedes Märchen für jedes Kind?
Im Prinzip eigentlich schon, wobei wir hier über "Volksmärchen" in der Tradition von Grimm reden, die Märchen ja nicht geschrieben, sondern nur gesammelt haben. Es handelt bei ihnen um urälteste Themen, die Lebenssituationen beleuchten, die jeder Mensch in seiner Entwicklung durchläuft.
Im Gegensatz dazu sind die "Kunstmärchen" von einem Autor verfasst, der damit in der Regel eine bestimmte Moral oder Entscheidung verkünden will (Andersen, Hauff). Letzterer hat in seinen Märchen sehr symbolisiert politische Verhältnisse seiner Zeit versteckt und sie kritisiert.
Grundsätzliche Empfehlungen sind schwierig, weil Märchen ja nicht für sich selbst im luftleeren Raum schweben, sondern immer in eine präformierte Situation kommen. Zuallererst ist da die angeborene "Konstitution" entscheidend. Wie bei allen anderen Dingen wird ein "starkes" Kind prinzipiell hohen Nutzen aus den Märchen ziehen, ein eher "schwaches" Kind könnte in der Tat beängstigt werden.
Aber auch das hängt dann wieder von "Nebenumständen" ab. Hat das "starke" Kind lieblose und uninteressierte Eltern, nützt ihm seine Konstitution wenig, während ein "schwaches" Kind bei liebevollen Eltern, die nicht nur eigene, sondern auch die Bedürfnisse des Kindes sehen, dann auch mit schwierigen Märchen wachsen kann.
Die einzige "Handlungsempfehlung", die ich hier geben kann, ist die, den Bedürfnissen des Kindes zu folgen. Und dann darf ein Märchen natürlich nicht einfach nur vorgelesen werden, sondern man muss darüber sprechen und ernsthaft auf die Gedanken, Gefühle, Fantasien des Kindes eingehen.
Im Prinzip eigentlich schon, wobei wir hier über "Volksmärchen" in der Tradition von Grimm reden, die Märchen ja nicht geschrieben, sondern nur gesammelt haben. Es handelt bei ihnen um urälteste Themen, die Lebenssituationen beleuchten, die jeder Mensch in seiner Entwicklung durchläuft.
Auch da gibt es wohl das ein oder andere Märchen, das in heutigem Kontext nicht mehr richtig funktioniert, aufgrund einer veränderten Wahrnehmung. Ich denke da an Märchen wie den "Räuberbräutigam", welche nach heutigem Verständnis eher einem Splatter-Horrorfilm entsprechen statt symbolisch oder abstrakt verstanden zu werden.
Bei den meisten anderen Märchen dürfte das wohl weniger drastisch ausfallen, weil dieses spezielle Märchen allerdings auch in meiner alten Märchensammlung vorkommt (Und mir von meiner Mutter wohl aus gutem Grund nie vorgelesen wurde) wollte ich das hier zumindest mal erwähnt haben.
Auch hier möchte ich zunächst nur mitlesen (da nicht jeder meiner Gedanken der "Weisheit letzter Schluss" ist 😉 - - fremde/andere Gedanken aber oft sehr "inspirierend" wirken. )
hg poimen
@poimen-a
Ja, mach doch. Dann gleich auch noch ein Gedanke, der noch nicht genannt wurde: Märchen sind nicht für Kinder gemacht, sondern für Erwachsene, wurden aber in alten Zeiten im Kreis der gesamten Familie erzählt. MaW: Es ist auch für den heutigen Erwachsenen eine gewinnbringende Literatur.
"Wie, wenn erst wir Erwachsenen, jenseits von Eden, die Welt gar nicht mehr anders sehen könnten als in der Projektion eigener Widersprüche und Zerrissenheiten? Dann stünden wir im Angesichte eines solchen Kindermärchens nicht vor der Frage, wie wir die Kinder lehren müßten, auf unsere Art «Erwachsene» zu werden, sondern gerade umgekehrt: statt ein Kindermärchen wie «Schneeweißchen und Rosenrot» vom Erwachsenenstandpunkt aus «kritisch» zu «hinterfragen», stellt sich womöglich dieser unser Erwachsenenstandpunkt selbst in Frage, und nur, wie wir es lernen können, selber nach einem Bibelwort wieder «zu werden wie die Kinder» (Mk 10,15), ist dann der eigentlichen Untersuchung wert. Die Eingangsbilder des vorliegenden Märchens verwandeln sich, wenn es so steht, zu Sehweisen und Angeboten einer «Weltanschauung», in welcher die Natur mit unverstellten Kinderaugen als eine ungetrennte Einheit von Mensch und Welt erscheint; innerhalb einer solchen Weltsicht ist auch der Mensch seelisch bestimmt zum Einklang, und einzig dies muß dann kulturhistorisch ebenso wie psychologisch wohl die Hauptfrage sein, wie «Kinder» eine derartige Harmonie bewahren können, wenn sie sich zu «Erwachsenen» entwickeln."
Eugen Drewermann, Schneeweißchen und Rosenrot
Veröffentlicht von: @queequegdies muß dann kulturhistorisch ebenso wie psychologisch wohl die Hauptfrage sein, wie «Kinder» eine derartige Harmonie bewahren können, wenn sie sich zu «Erwachsenen» entwickeln."
für Kinder ist "der Tod" nur eine Spielart von vielen...
für Erwachsene gewinnt er zunehmend an Realität...
hg poimen
@poimen-a
Nicht repräsentativ: Ich habe während des Studiums ein paar Wochen auf einer Kinder-Krebs-Station gearbeitet. Die Kinder wussten alle, worum es ging. Ich habe aber kaum einen Erwachsenen gesehen, der die Möglichkeit seines Todes so gelassen hinnahm wie diese Kindern. Ein ungefähr 8 Jähriger sagte glasklar dazu, dass er vermutlich sterben würde, dass es doch gut war, dass er gelebt habe und es viel schlimmer sein würde, wenn er gar nicht erst gelebt hätte.