Was hört ihr gerade?

@queequeg 

im Gegesatz zu meinen Erwarungen, dass Musiker sehr sensibel sind

Wer von Beethovens Klaviersonaten oder Orchesterwerken in reinstes Verzücken versetzt wird, kann seinem Ehepartner dennoch kalt gegenüber stehen. Sensibilität macht noch keinen besseren Menschen. 

Damit erzähle ich Dir sicher nichts Neues mehr. Aber ich finde Dein Beispiel interessant, weil es einem Vorurteil gegenüber Musikern entspricht, dem ich in meinem Umfeld immer mal wieder begegne. Ich erwidere dann gern, daß Himmler sehr schön Geige gespielt haben soll. 

@queequeg im Gegesatz zu meinen Erwarungen, dass Musiker sehr sensibel sind

Naja, zwischen "sensibel" und "empathisch" besteht ja auch nochmal ein Unterschied. Der Mann der von Dir beschreibenen Frau mit dem unerfüllten Kinderwunsch könnte also sowohl sensibel als auch gegenüber seiner Frau empathie- und rücksichtslos gewesen sein. Da ich aus dem "Künstlermilieu" stamme, weiß ich ganz gewiß, dass sich da nicht die besseren Menschen herumtummeln. Viele große Künstler sind sogar ausgemachte und besonders fette Arschlöcher - wie wohl ein gewisser Egonzentrismus und ein, manchmal sogar bewußter, Verzicht auf Anteilnahmen an den Nöten der Menschen in der jeweiligen Umgebung auch nötig sein könnte, um sich voll und ganz auf eine Sache zu konzentrieren.

In einem seiner Lieder hat Georg Kreisler diese Zeile untergebracht:"... denn jedem Künstler ist es recht, spricht man von andren Künstlern schlecht..." - das ich mir immer wieder leise nochmal vorsinge, bevor ich über irgendeinen Kollegen, bzw. deren Werke was Negatives sage. (Weswegen es mir leichter fällt, schlechte Filme oder Bücher zu kritisieren als schlechte "Bildende Kunst" - denn da kann ich mir sicher sein, nicht als Motiv im Hinterkopf zu haben, einen potentiellen Konkurrenten vom Futtertrog verdrängen zu wollen. 😉 )

Ob Pavel Kushnir nun einer von den guten, sensibel-empathischen oder einer von den gefühllos egonzentrischen Typen war? Wenn ich ihn da so sitzen sehe, gehört er zumindest seiner Ausstrahlung nach eher zu der sensibel-introvertierten Art, sein Outfit sieht mir auch eindeutig nach einem Intelektuellen-Gestus (das Existentialisten-Schwarz... 😍 )aus und rein vom Körperlichen her drückt er ja nicht gerade eine "Platz da, jetzt komm ich!"-Mentalität aus. Auch da darf man sicherlich nicht zu sehr sich täuschen lassen - auch Goebbels hatte ja eher die Figur eines spartanischen Intellektuellen...

Im Artikel wird ja einiges über ihn erzählt, was für mich das Bild von jemandem zeichnet, mit dem ich vermutlich nicht dauerhaft eine Freundschaft hätte pflegen können, weil er mir vermutlich zu kompromißlos in seinen Überzeugungen und seinem Handeln gewesen wäre (solche Leute stressen mich, weil ich sie als ständigen Vorwurf wider meine weniger perfekte Lebensweise, meine Wurschtigkeit auch in ethischen Dingen, empfinde).

Aber persönliche Sympathie muss man ja auch nicht empfinden so einem Mann gegenüber, solange man ihm Respekt für seine kompromißlose Haltung gegenüber der Macht zollt - und natürlich für sein stupendes pianistisches, also künstlerisches Können.

Ich meine: er war noch so jung und wir dürfen davon ausgehen, dass er einen Großteil seines kurzen Lebens damit verbrachte, zu üben und hochkomplexe Kompositionen auswendig zu lernen... Wie er da vor so wenigen Leuten im Publikum so ernst und hochkonzentriert "abliefert" - als Künstler aus der anderen Ecke muss ich doch mindestens das dahinter steckende Arbeitsethos bewundern und diese Fähigkeit zur Konzentration und Versenkung.

Dass sein skandalöses Verschwinden und Gefangenhalten und Ermordetwerden so relativ "unbemerkt" passieren konnte, ist ja vermutlich schon ein Hinweis darauf, dass er nicht gerade ein Everybodies Darling war, nach demo, sobald er nicht wie gewohnt auftauchte, sofort engagiert gesucht worden wäre. Gut möglich, dass er also im Verhältnis zu näheren Bekannten sich ähnlich menschlich kalt verhielt wie der Ehemann in Deinem Bericht (die wenigen Details, die man über ihn im bbc-Artikel erfährt, suggerieren zwar etwas anderes, aber klar doch: de  mortuis nil nisi bene...). Und ja: man mag sich nicht so recht vorstellen, dass besonders schöne, erhebende, anrührende Kunst von Arschlöchern, Verbrechern und Mördern "gezaubert" werden könne.

Und doch, und doch... Wenn ich diesen schmalen Jungen da so sphärisch spielen sehe und höre...

@mrorleander Ach, Rachmaninoff kannst Du getrost weiterhin hören.

Puh, nochmal Glück gehabt... 😉

Aber ist es nicht traurig, wie so eine einsmal kulturell große Nation so in den Niederungen der Barbarei versinkt?

Übrigens: ich kann ja auch diejenigen Juden verstehen, die trotz allem gern Musik von Wagner hören oder deutsche Literatur lieben oder oder oder... Aber zumindest ich dürfte nicht mehr die Zeit miterleben, in der es mir wieder möglich sein wird, "russisch" nicht automatisch mit dem Terror-Totalitarismus des nackterten Ponyreiters zu assoziieren.