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Gott liegt richtig: Der Mensch ist böse von Anfang an...

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Jack-Black
Themenstarter
Beiträge : 3518

So, ich hoffe, der sich auf 1.Mose 8,21 beziehende Clickbait in der Überschrift wird seine Wirkung haben... 😉

Aber tatsächlich hatte ich schon bald, nachdem ich diesen Vortrag eingeschaltet hatte, genau diese gedankliche Assoziation: Reden nicht viele Christen davon, ja ist nicht das die Grundidee des Christentums, dass der Mensch im Kern moralisch schlecht/böse/verdorben (und erst deswegen erlösungsbedürftig) sei?

Der daran anschließende Gedanke, der sich mir aufdrängte: Warum hassen viele Christen Peter Singer, obwohl der doch in seinem berühmten Aufsatz "Hunger, Wohlstand und Moral" eigentlich auf philosophischer Ebene diese Basis aller christlichen Moral - dass nämlich die Menschen üblicherweise moralisch schlecht sind und daher "umkehren", also ihr Leben ändern müssen - logisch beweist? Bisher hatte ich gedacht, die Verachtung, die einem entgegenschlägt, sobald man Peter Singer in religiösen Kreisen als Autorität in's Gespräch bringt, läge daran, dass er sich in anderen Zusammenhängen für Abtreibungsrechte einsetzt oder dafür, manche Primaten mit gleichen oder sogar stärkeren Schutz-Rechten zu versehen als beispielsweise stark behinderte Kleinkinder... Ich dachte also, Singer werde deswegen so gehaßt, weil man bestimmte seiner Meinungen als amoralisch, d.h. böse betrachtet.

Nachdem ich mich nun aber mit genannten Aufsatz näher auseinandergesetzt habe, kam mir eine gänzlich andere Ahnung: Die Empörung, ja der Hass gegen Singer speist sich womöglich aus einem schlechten Gewissen dem Mahner gegenüber. Man hasst den Überbringer der das selbstverliebte Eigenbild vernichtenden Nachricht. Singer beweist in dem Aufsatz streng logisch und ohne dass vernünftige Auswege aus der Argumentation erkennbar wären, dass wir Menschen hier im vergleichsweise reichen Westen (und das schließt die Christen mit ein) in unserer ganz überwiegenden Mehrheit uns unmoralisch verhalten. Und zwar derart krass unmoralisch, dass einem, sobald man mal drüber nachgedacht hat, jede Erwähnung "unserer zu verteidigenden Werte" wie ein schlechter Witz vorkommt.

Da nicht alle hier Englisch gut genug verstehen, um dem Vortrag zu folgen, möchte ich dessen Inhalt hier mal referieren, so gut ich es vermag. Worum geht es?

Kurz gesprochen: Um den Beweis, dass wir uns regelmäßig unmoralisch verhalten unseren eigenen moralischen Vorstellungen entsprechend: Wir erfüllen nicht die Mindestanforderungen, die wir an einen Menschen zu stellen haben, von dem man zutreffenderweise sagen könnte: Er handelt nicht böse.

Der Beweis gliedert sich so (ich übersetze die Formulierungen aus dem Vortrag, der Originalaufsatz Singers liegt mir nicht vor, daher können die Formulierungen durchaus etwas abweichen):

Prämisse 1: Wenn es in unserer Macht steht, ein sehr schlimmes (schlechtes) Ereignis zu verhindern, ohne dabei etwas von moralisch signifikantem Wert zu opfern, dann sind wir moralisch dazu verpflichtet, es zu tun.

Prämisse 2: Hunger, Krankheit oder andere Quellen von Leid, Ohnmacht und Tod sind sehr schlimm (schlecht).

Prämisse 3: All der Luxus, in den wir Geld investieren, hat keinen moralisch signifikanten Wert.

Prämisse 4: Mit dem Spenden von Geld an Wohltätigkeitsorganisationen könnten wir Hunger, Krankheiten und andere Quellen des Leids, der Ohnmacht und des Todes verhindern.

Schlußfolgerung: Daher müssen wir (sind wir moralisch verpflichtet), das Geld, das wir üblicherweise für Luxus ausgeben, Wohltätigkeit/Hilfssorganisationen spenden.

Soweit das Argument, das einiger Erläuterungen bedarf, um seine Stringenz und Unabweisbarkeit zu belegen.

Wenn man sich das Argument gründlich durchliest, wird man erkennen, dass es vor allem auf Prämisse 1 ankommt. Wenn die wahr sein sollte, wenn die Formulierung "moralisch dazu verpflichtet" zutreffen sollte - dann ist auch die Schlußfolgerung zutreffend, denn die Prämissen 2, 3 und 4 lassen sich nicht intellektuell redlich bestreiten (dass dies bei 3 dennoch öfter mal geschieht, wird weiter unten behandelt).

Schon im Vorfeld ist es wichtig, sich klar darüber zu werden, wann wir von einer ethisch relevanten Tat sprechen, die besonders gut und lobenswert ist und wann von einer ethisch relevanten Tat, die nicht besonders gut und lobenswert, sondern selbstverständlich ist, für die also niemand Lob erwarten darf, sondern vielmehr zu ihr verpflichtet ist - andernfalls wir ihn (sein Handeln) als unmoralisch/böse/verwerflich betrachten.

Es gibt für die erstgenannte Gruppe von Taten den Begriff Supererogation. Handlungen, bei denen jemand etwas "Gutes" (Altruistisches) tut, zu dem er nicht verpflichtet ist. Beispiel aus dem Vortrag: Eine Arbeitsgruppe hat sich für einen Morgentermin verabredet und jemand (Peter) bringt für alle Teilnehmer heißen Kaffee und vielleicht noch was zu Knabbern mit - für den Fall, dass vielleicht nicht alle noch Zeit hatten, was zu frühstücken. Das ist eine nette Geste, die anderen freuen sich, das Arbeitstreffen wird vielleicht produktiver usw. Supi, ganz toll, der Peter ist ein kleiner Alltagsheld für die Leute, die sich da treffen.

Anders sähe der Fall aus, wenn man sich vor dem Treffen darauf einigte: "Einer sollte vielleicht für Kaffee und eine Kleinigkeit zu Essen sorgen!", dann Peter sich meldet: "Okay, das mache ich, verlaßt euch drauf!" In dem Fall handelt es sich beim Mitbringen der Frühstückszutaten nicht mehr um eine supererogative Handlung, sondern nur um die Erfüllung einer Pflicht. Man darf von Peter erwarten, dass er den Kaffee organisiert. Wenn er diese Erwartung nicht erfüllt, hat er moralisch schlecht gehandelt.

Er hätte dann zwar genauso gehandelt wie Sandra, die ja auch keinen Kaffee mit zum Treffen bringt. Aber sie hatte sich ja auch nicht verpflichtet.

Also: Menschen kann kein Vorwurf daraus gemacht werden, keine supererogativen Handlungen auszuführen, aber wenn sie's tun, ist dies ein Grund, ihr Handeln als moralisch gut zu bezeichnen.

Man kann Menschen aber einen Vorwurf daraus machen, dass sie eine Handlung, zu der sie verpflichtet sind, nicht ausführen. Das Nichterfüllen einer Pflicht ist moralisch schlecht.

 

Die Frage, die sich nun stellt: sind wir überhaupt ernsthaft verpflichtet, das Geld, das wir "übrig" haben, wenn unsere Grundbedürfnisse gestillt wurden, zu spenden - oder ist so eine Spende lediglich eine supererogative Handlung, also eine kleine Heldentat (bei größeren Spenden dann eine große...)? Intuitiv sagen wir: Nö, niemand ist dazu verpflichtet, Geld zu spenden, das ist rein freiwillig. Geld zu spenden ist also supererogativ: man tut mehr, als man zu tun verpflichtet wäre.

Ihr könnt ja mal kurz für Euch selbst beantworten, wie Ihr das einschätzt. Mein erstes "Bauchgefühl" jedenfalls würde lauten: Niemand ist verpflichtet, sein Geld an Hilfsorganisationen zu spenden, statt dafür Luxusartikel (wie beispielsweise einen Kaffee bei Starbucks, eine neue Winderjacke, obwohl die alte noch durchaus ausreichend warm halten würde usw.) dafür zu kaufen.

Okay. Aber wie "richtig" ist mein Bauchgefühl? (Und, noch skeptischer nachgefragt: wie ehrlich höre ich da auf mein Bauchgefühl?*)

Hier wird nun ein weiteres Szenario eingeführt, anhand dessen es uns möglich ist unser Bauchgefühld davon, wozu wir  moralisch verpflichtet seien, zu überprüfen.

Das ertrinkende Kind.

Ihr hab Euch in der Stadt mit Sandra auf einen Kaffe verabredet. Auf ihrem Weg zum Stelldichein nimmt Sandra die Abkürzung durch den Stadtpark, in dem sich eine Springbrunnenanlage oder ein flacher Teich befindet. Ein kleines Kind ist da hineingefallen und droht zu ertrinken. Sandra könnte leicht (ohne ihr eigenes Leben oder auch nur ihre Gesundheit zu riskieren) dem Kind das Leben retten, indem sie in das Brunnenbassin oder den flachen Teich steigt und das Kind da herausfischt. Dadurch würden allerdings ihre Klamotten nass, insbesondere die schönen neuen Schuhe, die sich sich extra für das Date gekauft hatte, könnten durch den Schlamm unrettbar kaputt gehen.

Ist Sandra also dazu verpflichtet, dem Kind das Leben zu retten, oder ist sie nicht dazu verpflichtet, weil sie damit ja ihre neuen Schuhe riskiert?

Für die weit überwiegende Mehrheit der Leute ist da überhaupt kein moralisches Dilemma zu erkennen: Selbstverständlich ist Sandra verpflichtet, das Kind zu retten. Die wenigen Leute, die das nicht so sehen, möchte man nicht in seiner Umgebung haben: das sind unserem üblichen Verständnis nach moralische Monster.

Die Betrachtung, dass Sandra zu der Lebensrettung des Kindes verpflichtet sei, ist bei uns ja sogar in Strafgesetze (bezgl. der unterlassenen Hilfeleistung) gegossen. Sie muß dabei inkauf nehmen, dass ihre schönen neuen Schuhe ruiniert werden und sie womöglich zu spät zum Stelldichein kommt - sie ist also verpflichtet, diese "Werte" zu opfern - weil sie keinen signifikant moralischen Wert darstellen: die Schuhe lassen sich ersetzen und für das Nichteinhalten der Verabredung kann sie sich leicht entschuldigen - ihr entgeht vielleicht ein schöner romantischer Nachmittag, aber dessen Wert ist - in Relation zum Leben des Kindes - nun wirklich nicht signifikant (bedeutend).

Wenn wir also das Szenario des ertrinkenden Kindes als Beispiel heranziehen, so scheint es die Prämisse 1 in Singers Argument zu stützen: Wenn es in unserer Macht steht, ein schlimmes Ereignis (das Sterben des Kindes) zu verhindern, ohne dabei etwas von moralisch signifikantem Wert (Schuhe, romantisches Stelldichein sind keine moralisch signifikanten Werte) zu opfern, sind wir  moralisch dazu verpflichtet, es zu verhindern.

Prämisse 1 kann also als wahr, d.h. im Einklang mit unserem eigenen moralischen Standard, betrachtet werden.

Wenn aber Prämisse 1 wahr ist und wir bei halbwegs intellektueller Redlichkeit zugeben müssen, dass auch die Prämissen 2, 3 und 4 wahr sind, dann ist die Schlußfolgerung logisch notwendig auch wahr.

Im Vortrag wird noch auf mehrere Einwände eingegangen, die gegen Prämisse 1 häufig erhoben werden. Beispielsweise, dass ja auch andere Leute im Park das ertrinkende Kind hätten retten können. Oder dass dieses Szenario nicht auf das Spenden an Hilfsorganisationen übertragen werden könne, allein schon, weil selbst mit einer sehr hohen Spende nicht gewährleistet werden könne, dass alle Hilfsbedürftigen gerettet werden könnten. Oder dass die Menschen, denen Hilfsorganisationen beistehen, weit entfernt von uns leben. Falls Euch diese Einwände einleuchten oder falls Ihr noch andere Einwände gegen Prämisse 1 habt, die Ihr für potentielle Widerlegungen haltet: bringt sie hier vor - denn das ist ja ein Diskussionsforum hier. 🙂

Ich möchte noch kurz auf einen Einwand eingehen, der gegen Prämisse 3 vorgebracht werden könnte:

Einwand: Was Luxus sei, der keinen moralisch signifikanten Wert hat - und was nicht - das ist Ansichtssache (subjektiv) und kann nicht klar definiert werden. Ein Satz aber, dessen Begriffe nicht hinreichend definiert sind, kann nicht als objektiv wahr bezeichnet werden.

Dieser Einwand ist in meinen Augen formal richtig, allerdings nur so lange, wie man nicht akzeptiert, dass hinsichtlich moralischer Werte ohnehin das zählt, worauf sich eine Gesellschaft geeinigt hat. Einen moralisch signifikanten Wert haben in unserer Gesellschaft materielle Güter, die nicht direkt der Gesundheit oder dem Überleben eines Menschen dienen, nicht. Im hier diskutierten Zusammenhang ließe sich sagen: Alles, das wir nicht existentiell brauchen, um gesund zu leben, alles, worauf wir verzichten könnten, ohne dass unsere Gesundheit, unser Leben dadurch infrage gestellt würde - ist Luxus.

Wenn wir Singers Argumentation also ernst nehmen würden, wenn wir von uns sagen können wollten: ich lebe gemäß dem, was ich als moralisch verpflichtend erkannt habe - müßten wir so ziemlich alles, was wir haben, den Bedürftigen spenden. Und der Umweg über professionelle Hilsorganisationen wäre dazu der effizienteste Weg, allein schon, da sie am meisten der Hilfe Bedürftigen eben nicht in unserer Nachbarschaft sondern weit entfernt in anderen Ländern sich befinden.

Wir wären damit keine altruistischen Helden, wir hätten eigentlich kein Recht, dafür Bewunderung oder Achtung zu fordern oder zu erwarten. Wir würden lediglich das moralische Minimalziel erreichen: eine Pflicht erfüllen, die uns durch unsere eigenen moralischen Standards (unsere Werte...) auferlegt ist. Indem wir uns anders verhalten, begehen wir mit jedem Euro, den wir in irgendeine Art Luxus stecken, "unterlassene Hilfeleistung", handeln also moralisch böse.

That's it. Das ist die niederschmetternde Einsicht, zu der wir gelangen, wenn wir Peter Singers Argumentation folgen. Und das wollen wir nicht hören, weil es an unserem Selbstbild als einer Person, die doch "ihr Bestes" tut, sich moralisch richtig zu verhalten, nicht nur kratzt, sondern dieses Selbstbild mal eben radikal vom Sockel stößt und sich in einen Scherbenhaufen verwandeln läßt.

Wir verhalten uns täglich nicht nur schwach, sondern moralisch schlecht (aka böse). Das läßt sich als Fakt festhalten, übrigens ohne auch nur mit einem Wort irgendwelche göttlichen Vorgaben/Gebote/Definitionen/Ideale erwähnt zu haben.

Je mehr man nun von der eigenen moralischen Integrität überzeugt ist, je mehr man meint, zu wissen was Gut von Böse unterscheidet, je mehr man sich als Stellvertreter oder Kämpfer des Guten versteht, desto weniger wird man sich von jemandem vorrechnen lassen wollen, der es besser weiß. Das hat was mit der jeweiligen moralischen Fallhöhe zu tun. Wie praktisch dann also, wenn dieser jemand eine Meinung zu einem ethisch relevanten Thema hat, das schön weit weg ist von dieser zwillingshaften Kardinalsünde (Gier und Geiz). Peter Singer - das ist doch dieser Euthanasie-Vertreter, wie kann man denn da etwas ernst nehmen, das seinem kranken Hirn entsprungen ist?!

 

 

 

* Bei vermutlich vielen Leuten, so halt auch bei mir, meldet sich das Bauchgefühl mit ziemlicher Regelmäßigkeit, immer, wenn wir uns mal wieder "etwas gönnen", mit der gefühligen Nachfrage: "Bist du dir sicher, dass du mit dem Geld, das du für diesen Quatsch ausgibst, nicht etwas Besseres anstellen könntest? Ist es nicht pervers, im Winter teure Erdbeeren zu fressen, die aus einer Region eingeflogen wurden, in welcher Menschen in bitterster Armut leben? Ist der Gedanke daran, mir einen zweiten Schrank zu kaufen, weil all meine Klamotten nicht mehr in dem einen Platz finden - während anderswo barfüßige Kinder in Müllkippen nach Verwertbarem suchen?" Wenn ich aufmerksamer auf mein echtes Bauchgefühl achten würde, würde mir vermutlich übel werden. Und deswegen verdränge ich es meist, bevor es sich in konkreten Gewissensregungen verfestigen kann.

Das "erste Bauchgefühl", von dem ich oben spreche, ist eigentlich nur der zur Gewohnheit geronnene Schuldabwehr-Reflex, dessen Botschaft lautet: "Das bin doch ich, der sich entsprechend verhält, also kann es ja wohl nicht falsch sein."

Antwort
72 Antworten
Deborah71
Beiträge : 22789

@jack-black 

Also, der Anfang fängt am Anfang an, d.h. der Mensch war sehr gut geschaffen und ist durch den Sündenfall nicht mehr sehr gut und braucht Erlösung von Sünde und von sich selbst und braucht einen neuen Kern (menschlicher Geist) von oben.

Da ich so schnell weder den Vortrag noch deine Beschreibung dessen gelesen habe, begnüge ich mich damit, den Anfang des Anfangs anzumerken. 🙂

 

deborah71 antworten
2 Antworten
Jack-Black
(@jack-black)
Beigetreten : Vor 3 Jahren

Beiträge : 3518

@deborah71 Ja, genauso hatte ich die Clickbait-Wirkung kalkuliert. Dazu hab ich ja sogar das Bibelzitat leicht verfälscht. Die Leute sind engagierter, wenn sie bei ihrem Drang, andere zu korrigieren, abgeholt werden. 😀

jack-black antworten
Deborah71
(@deborah71)
Beigetreten : Vor 19 Jahren

Beiträge : 22789

@jack-black 

Auch ohne clickbait-Titel hätte ich den Anfang als Anfang deklariert. Ich kann dich doch nicht im Irrtum lassen. 🤣 

 

deborah71 antworten


GoodFruit
Beiträge : 2561

@jack-black Ich finde es wichtig, sich solche Gedanken zu machen. Aber diese bildlich aufgebaute Diskrepanz zwischen Luxus und guten Werken finde ich künstlich.

Viele Menschen, die sich etwas leisten können, haben sicher auch noch etwas übrig, um wirkungsvoll humanitäre Beiträge zu leisten. Und wer weiß - vielleicht arbeiten sie sogar für eine Firma, die Luxusartikel herstellt und sie verdienen deshalb besonders gut und können viel geben.

Ein kunstfertig hergestelltes Schmuckstück, ein besonders edel ausgestattetes Auto, ein guter Wein oder ein besonders gutes Essen - was nimmt das dem Bedürftigen? Aber diese Dinge bereiten manchen Leuten eben Freude und anderen ist es die Grundlage zum Broterwerb + der Möglichkeit, karitativ zu wirken.

Mich erinnert das an die Kritik des Judas, dass das Öl, was die Frau, die es über Jesu Füße gießt, schlecht investiert sei und man es doch besser verkaufen und das Geld den Armen geben solle. Gibt es nicht genug Geld in Jerusalem, um die Armen zu unterstützen - warum soll es jetzt grade von diesem Öl passieren?

Das Problem ist nicht der Besitz. Das Problem ist ein krankes Verhältnis zum Besitz gepaart mit der Unfähigkeit, Not zu entdecken und hilfreich einzugreifen. Und da gibt es ein zu viel. Wer alles hat und immer mehr Kapital akkumuliert, der verliert irgendwann den realen Bezug zu seinem Besitz. Er weiß weder, was die Entsprechung der Zahlen auf seinem Konto sind, noch ist er sich der Verantwortung, die er damit trägt, bewusst. Es gibt da oft nur noch der Gedanke daran, noch mehr hinzuzutun. Dass das Geld an anderer Stelle viel Größeres bewirken könnte, ist ihm nicht bewusst.

Und manchmal sind es Kleinigkeiten, die viel bewirken. Vor einigen Wochen hatte ein Penner sich in der Nähe der Firma, wo ich arbeite, sein Plätzchen gesucht. Eines Morgens saß er auf unserem Parkplatz in der Sonne und es war bitterkalt. Da bin ich rein in die Firma und habe ihm einen Kaffee aus unserem Automaten herausgelassen und ihm gebracht. Ich bin mir sicher, dass der ihm gutgetan hat und ich wäre bereit gewesen, ihm den jeden morgen zu bringen - aber er war dann weg. Das waren für mich 20 ct. und wenn ich ihn eine Arbeitswoche versorgt hätte, wären das 1 EUR pro Woche. Für mich ist das fast nichts - aber für ihn hätte es einen großen Unterschied gemacht. Und ich bin mir sicher, dass es viele Gelegenheiten gibt, wo ein kleiner Einsatz für einen Menschen eine Hilfe sein könnte, die weit aus mehr wert ist, als wie der Betrag für mich wert hätte. Wer mit einem Teil seines Vermögens so wirtschaftet, der schafft eine Dividende, die er in der Wirtschaft nie bekommen würde - wenn man einfach nur mal an die Geldbeutel, die nicht verrotten, von denen Jesus spricht, denkt.

Ich glaube auch nicht, dass der Mensch generell böse, egoistisch und selbstsüchtig ist. Menschen werden so bzw. sie versäumen es im Leben, den wichtigen Bereich der Nächstenliebe für sich zu entdecken. Ich denke, dass eine große Ursache die Entfremdung des Menschen vom Leben selbst ist. Die besten Dinge im Leben, die angeblich umsonst sein sollen, genießen gesellschaftlich einen niederen Wert oder sind sogar sanktioniert. Es müssen also Ersatzbefriedigungen her, die sich in materiellen und besonders auch in teuren materiellen Dingen wiederfinden. Das macht dann einen Teufelskreis aus und der Mensch entfremdet sich immer mehr von seinem Sein und seine Wahrnehmung für das natürliche Umfeld, zu dem auch der notleidende Nächste gehört, verschwindet. Und die Virtualisierung der Welt macht die Sache nicht besser.

Ist das nun der Mensch, der von Grund auf böse ist - oder hat die Welt mit ihren Regeln, ihren Werten und Zielen den Menschen dahin gebracht, wo er nicht sein sollte?

 

goodfruit antworten
22 Antworten
Lucan-7
(@lucan-7)
Beigetreten : Vor 13 Jahren

Beiträge : 21306

@goodfruit 

Ich finde es wichtig, sich solche Gedanken zu machen. Aber diese bildlich aufgebaute Diskrepanz zwischen Luxus und guten Werken finde ich künstlich.

Viele Menschen, die sich etwas leisten können, haben sicher auch noch etwas übrig, um wirkungsvoll humanitäre Beiträge zu leisten. Und wer weiß - vielleicht arbeiten sie sogar für eine Firma, die Luxusartikel herstellt und sie verdienen deshalb besonders gut und können viel geben.

Richtig. Aber sie tun eben nicht ALLES, was nötig wäre. Klar gesagt: So lange es noch irgendwo Menschen gibt, die aufgrund nicht vorhandener Mittel sterben (Und solche gibt es reichlich auf der Welt!), so lange kann eigentlich niemand guten Gewissens Luxusprodukte kaufen.

Es sei denn natürlich, wir wären ehrlich und würden sagen: Es geht gar nicht darum, Menschenleben zu retten... wenn ein paar Menschen irgendwo auf der Welt sterben, obwohl sie auf relativ simple Weise hätten gerettet werden können, dann ist das schon in Ordnung. Das nehmen wir als Preis für unseren Luxus in Kauf.

Wird natürlich keiner sagen, ist aber trotzdem Konsens. Genau so, wie wir auch jedes Jahr zahllose Verkehrstote in Kauf nehmen, um unserem Vergnügen, dem Autofahren zu fröhnen.

Dabei müssten wir eigentlich vor jeder Fahrt, die ja potentiell für einen Menschen tödlich sein kann, uns genau überlegen: Ist diese Fahrt jetzt wirklich nötig? Ist mir diese Fahrt so wichtig, dass ich dafür einen potentiell tödlichen Unfall in Kauf nehme?

Es gibt meines Wissens keine Statistik darüber, wieviele tödliche Unfälle jedes Jahr hätten vermieden werden können, würden sich die Menschen grundsätzlich nur auf die allernotwendigsten Fahrten beschränken... also solche, die für die nötige Grundversorgung erforderlich sind. Damit ließe sich die Anzahl der Verkehrstoten mit Sicherheit signifikant senken.

Darauf wird sich aber niemand einlassen. Dafür bedeutet uns die Freiheit, jederzeit überall hin mit dem Auto unterwegs sein zu können, einfach zu viel. Die Toten werden dabei als akzeptables Risiko in Kauf genommen. Natürlich nicht bewusst, wir verdrängen diese Umstände halt.

So wie wir auch verdrängen, dass wir eben in Wahrheit gar nicht so moralisch handeln, wie wir es uns selber gerne vormachen...

lucan-7 antworten
GoodFruit
(@goodfruit)
Beigetreten : Vor 3 Jahren

Beiträge : 2561

@lucan-7 Es sei denn natürlich, wir wären ehrlich und würden sagen: Es geht gar nicht darum, Menschenleben zu retten... wenn ein paar Menschen irgendwo auf der Welt sterben, obwohl sie auf relativ simple Weise hätten gerettet werden können, dann ist das schon in Ordnung. Das nehmen wir als Preis für unseren Luxus in Kauf.

Biblisch ist es ja so, dass ich mich um meine Nächsten kümmern muss - d.h., dass Menschen, die irgendwo in Afrika hungern, nicht unmittelbar meine Nächsten sind. Und auch wage ich mal zu bezweifeln, dass es ein Luxusgut in meinem Besitz (bei mir persönlich gibt es so etwas kaum - ich bin immer zweckdienlich/gutes Preis-Leistungsverhältnis aber doch wertig orientiert) direkt eine Not in einem anderen Land ausgelöst hat. Eher ist es der Billigpulli von Primak, der irgendwo die Not macht, aber nicht der Designer Pulli von Carlo Colucci.

Und es ist längst nicht immer Kapital, das Not lindert. Heute wissen wir, dass viele Menschen in Afrika zu Abhängigen von Hilfslieferungen wurden, weil ihre eigenständige Wirtschaft durch konkurrenzlos billige Hilfslieferungen ruiniert wurde. Hilfslieferungen werden an sich nur dort unabdingbar, wo Naturkatastrophen oder Kriege die Eigenversorgung unmöglich machten - wobei es ein besserer Ansatz wäre, letzteres zu verhindern statt Geld in Hilfslieferungen stecken zu müssen.

Darauf wird sich aber niemand einlassen. Dafür bedeutet uns die Freiheit, jederzeit überall hin mit dem Auto unterwegs sein zu können, einfach zu viel. Die Toten werden dabei als akzeptables Risiko in Kauf genommen. Natürlich nicht bewusst, wir verdrängen diese Umstände halt.

Klar sind Verkehrstote beklagenswert.

Aber schau mal diese Übersicht:

https://www.wikiwand.com/de/Liste_der_L%C3%A4nder_nach_Verkehrstoten

Wir sind eines der Länder mit der dichtesten Besiedlung und der höchsten Verkehrsdichte und wir gehören auch zu den Ländern mit den wenigsten Verkehrstoten.

https://www.runtervomgas.de/aktuelles-und-downloads/aktuelles/unfallstatistik-2020-zahl-der-verkehrstoten-und-verletzen-auf-tiefststand/?gclid=EAIaIQobChMIjrXvh_-4_QIVR-h3Ch1NYgKYEAAYASAAEgKXN_D_BwE

Und auch historisch haben wir sehr niedrige Zahlen.

Woran liegt das - und wo kommt es dann doch noch zu so schlimmen Unfällen. Wenn ich da an die Region denke, in der ich lebe, dann erinnere ich vor allem Verkehrstote durch illegale Autorennen. Und dann ist da noch der Faktor überhöhte Geschwindigkeit und Alkohol.

Ja, jede Technologie hat eine gewisse systemimmanente Mortalität zu beklagen. Und wir müssen alles tun, um die so gering wie möglich zu halten. Bei der Mobilität hat es große Fortschritte in der Technologie passiver und aktiver Sicherheit gegeben. Das ist sehr segensreich. Mein Opa ist mit einem Pferdefuhrwerk verunglückt, weil die Pferde durchgegangen sind. Er hat es überlebt - aber sich nie wieder so richtig davon erholt.

Auch hier denke ich, dass die Kritik im Grunde genommen unangebracht ist - Leben ist gefährlich und selbst wenn Du Dich nicht mehr aus dem Bett heraus bewegst, bist Du in Gefahr, Deine Gesundheit zu ruinieren. Die Risiken im Leben haben oft nichts mit der Boshaftigkeit von Menschen zu tun.

 

goodfruit antworten
Lucan-7
(@lucan-7)
Beigetreten : Vor 13 Jahren

Beiträge : 21306

@goodfruit 

Klar sind Verkehrstote beklagenswert.

Aber schau mal diese Übersicht:

Ja klar, anderswo ist es noch schlimmer. Wieviele Verkehrstote pro Jahr sind für dich denn in Ordnung?

Wenn du jetzt sagst: "Keine!" - dann müssten wir hier Maßnahmen ergreifen, um die Anzahl der Toten noch weiter zu senken.

Dazu gehört ein Verbot aller Fahrten, die nicht unmittelbar Lebensnotwendig sind (Also Krankenwagen und Versorgung mit Medikamenten, Lebensmitteln sowie notwendige Fahrten für den eigenen Lebensunterhalt). Ausserdem ein Totalverbot von Alkohol.

Das würde die Anzahl der Verkehrstoten zwar nicht auf Null senken... aber sicherlich noch mal ein ganzes Stück weiter.

Wenn du jetzt aber sagst: "Hey, nein... das geht zu weit!" - dann sagst du damit, dass freie Fahrt jederzeit und/oder Alkoholverkauf in Deutschland wichtiger sind als ein paar wenige Menschenleben.

Eine andere Schlussfolgerung ist gar nicht möglich.

 

lucan-7 antworten
GoodFruit
(@goodfruit)
Beigetreten : Vor 3 Jahren

Beiträge : 2561

@lucan-7 Ja klar, anderswo ist es noch schlimmer. Wieviele Verkehrstote pro Jahr sind für dich denn in Ordnung?

Lucan, ein Mensch der lebt, lebt auch gefährdet. Das war immer so und das wird immer so sein. Glaubst Du, dass sich das unter anderen gesellschaftlichen Prämissen je ändern wirst?

https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Verkehrsunfaelle/Tabellen/liste-strassenverkehrsunfaelle.html#251628

In dem Link oben kann man sehen, dass wir heute weniger als die Hälfte an Verkehrstoten haben als 1950.

Wenn du jetzt sagst: "Keine!" - dann müssten wir hier Maßnahmen ergreifen, um die Anzahl der Toten noch weiter zu senken.

Nein, das sage ich nicht! Und es wurde seit je her auf eine Verbesserung hingearbeitet und man war da ja auch erfolgreich:

https://www.wikiwand.com/de/Geschichte_der_Stra%C3%9Fenverkehrssicherheit

Ich halte aber Deine Maßnahmen für nicht zielführend:

Dazu gehört ein Verbot aller Fahrten, die nicht unmittelbar Lebensnotwendig sind (Also Krankenwagen und Versorgung mit Medikamenten, Lebensmitteln sowie notwendige Fahrten für den eigenen Lebensunterhalt). Ausserdem ein Totalverbot von Alkohol.

Was wird passieren, wenn Du diese Einschränkungen machst? Es macht ja im Grunde genommen keinen Sinn mehr, ein Auto und insbesondere ein gut ausgestattetes Auto zu kaufen. Anbieter würden verschwinden, Du setzt einen Selektionsdruck auf einfach und billig - mit der Konsequenz, dass keiner mehr in Sicherheitstechnik und deren Weiterentwicklung setzen wird. Du hast irgendwann wieder einen Trabbi - mit Trabbi-typischen Zahlen, was die Verkehrstoten betrifft.

Du gibst Dich hier als der große Wissenschaftler - und dann ist da null systemischen denken und null Berücksichtigung, welche Entwicklung ich mit welchem Selektionsdruck auslöse. Verbote verschlimmbessern und darüber hinaus nimmst Du den Menschen Lebensqualität.

Wenn du jetzt aber sagst: "Hey, nein... das geht zu weit!" - dann sagst du damit, dass freie Fahrt jederzeit und/oder Alkoholverkauf in Deutschland wichtiger sind als ein paar wenige Menschenleben.

Eine andere Schlussfolgerung ist gar nicht möglich.

Lucan - wie weit denkst Du? Ich finde das erschreckend. Erinnere Dich nur mal an die Zeit, als man in den USA den Alkohol komplett verboten hat. Was war die Konsequenz? Weniger Verkehrstote?

Schauen wir doch mal in die Geschichte, wo wir so etwas schon mal hatten:

https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/rausch-und-drogen-2020/321818/das-noble-experiment-und-sein-erbe/

Wir haben Zahlen der Verkehrstoten für die USA:

"https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Motor_vehicle_deaths_in_the_US.svg"

Hier der Link als Text - er funktioniert nicht direkt.

1920 kam das Thema des drastischen Alkoholverbots auf - und 1933 endete das Experiment des radikalen Alkoholverbots. Wenn Du Dir die Grafik zu den Verkehrstoten dieses Zeitraums ansiehst, wirst Du feststellen, dass in diesem Zeitraum die Zahl der Verkehrstoten nahezu exponentiell stieg - während um das Ende der Prohibitionszeit ein weiteres Steigen der Entwicklung beendet war.

Dafür hat man sich in diesem Zeitraum eine gut organisierte Verbrecherszene etabliert, mit einer Verdopplung der Morde in diesem Zeitraum.

Ist so eine Entwicklung überraschend? Wer systemtheoretisch analysiert, wird wenig überrascht sein. Ich würde jedoch eher weniger das Aufkommen einer größeren Kriminalität - dafür aber eine deutlich erhöhte Zahl an Selbstmorden wg. der durch immer mehr Verbote eingeschränkte Lebensfreude.

Das sind meine Schlussfolgerungen - und siehst Du: es sind doch andere Schlussfolgerungen möglich!

All das mögen Spekulationen sein - aber es gibt bei der Qualität von Schlussfolgerungen sehr wohl auch Unterschiede. Solche, die durch historische Erfahrungen begründet werden können, sind einfach besser.

 

goodfruit antworten
Lucan-7
(@lucan-7)
Beigetreten : Vor 13 Jahren

Beiträge : 21306

@goodfruit 

Lucan - wie weit denkst Du? Ich finde das erschreckend. Erinnere Dich nur mal an die Zeit, als man in den USA den Alkohol komplett verboten hat. Was war die Konsequenz? Weniger Verkehrstote?

Bevor du dich weiter erschreckst - es geht hier nicht um die Faktenlage, also wie die Welt tatsächlich ist, es geht um rein philosophische Grundlagen. Es geht einerseits um die Frage, was genau eigentlich unsere moralischen Werte sind, und andererseits darum, wie sehr wir uns tatsächlich daran halten. Und natürlich auch um die Frage wie ehrlich wir dabei zu uns selbst sind.

Wenn wir also sagen: "Das menschliche Leben ist das Wertvollste, was es gibt!" - halten wir uns dann auch tatsächlich konsequent daran? Oder agieren wir nur, bis wir kein schlechtes Gewissen haben und verdrängen den Rest?

Wenn wir hier umgekehrt argumentieren, so wie du es hier tust, also nach dem Motto: "Die Welt ist halt so, kann man halt nichts machen!", dann magst du damit zwar letztlich recht haben.

Es beantwortet aber die Frage nach unseren eigentlichen Idealen und Werten nicht. Und auch nicht, wie viel wir uns hier selber vormachen. Darum geht es hier aber.

 

 

 

lucan-7 antworten
GoodFruit
(@goodfruit)
Beigetreten : Vor 3 Jahren

Beiträge : 2561

@lucan-7 Es geht einerseits um die Frage, was genau eigentlich unsere moralischen Werte sind, und andererseits darum, wie sehr wir uns tatsächlich daran halten. Und natürlich auch um die Frage wie ehrlich wir dabei zu uns selbst sind.

Eine Philosophie, die keine Entsprechung in der realen Welt findet, halte ich für akademisch belanglos. Was soll das bringen?

Aber OK - nehmen wir das mal als ein Beispiel für die Bereitschaft, Dinge zu tun, die in einem statistisch sehr kleinen Rahmen für tödlich erweisen können.

Hier mal eine PowerPoint Präsentation, die einige Gefährdungsszenarien vorrechnet:

https://www.dguv.de/medien/ifa/de/vera/2010/2010_saet_gefahrstoffe/03_bender.pdf

Hier noch mal eine interessante Maßeinheit, um diese Risiken zu bemessen - das Mikromort (Todesfälle je Millionen Einwohner je Tag des Jahres):

https://www.spiegel.de/spiegel/risikoforscher-david-spiegelhalter-ueber-alltagsrisiken-und-micromorts-a-1155888.html

Die Wahrscheinlichkeit für einen natürlichen Tod in Deutschland beträgt demnach 1.1 Micromort.

In Deutschland starben 2022 2782 Menschen im Straßenverkehr. Das sind ca. 7.6 täglich oder - bei 84.3 Millionen Einwohnern - knapp 0.09 Micromort.

Wenn ich am Straßenverkehr teilnehme, dann kann ich das Risiko nie vollständig ausschließen. Aber ich kann es minimieren, indem ich mich an die Regeln halte und gegebenenfalls auch unter halb von Höchstgrenzen bleibe: Wenn es Glatteisgefahr gibt, dann ist es sinnvoll, deutlich langsamer zu fahren.

Viele Unfälle mit schwerwiegenden Folgen geschehen, wenn Regeln nicht beachtet werden: Straßenrennen, nicht angeschnallt sein, Alkoholkonsum über das erlaubte Maximum.

Ein Nullrisiko ist illusorisch - aber das ist es wirklich überall und für so ziemlich alles.

Die Regeln sind so, dass Risiken minimiert werden. Ich muss also mich an die Regeln halte, vonseiten der Polizei die Einhaltung dieser Regeln überwacht werden, um bei dem Risiko zu bleiben, dass der Gesetzgeber als Folge seiner Rechtsbestimmungen für tragbar hält.

Die Zahl ist nicht klein und sollte aber geringer ausfallen. Ich könnte mir vorstellen, dass ein Tempolimit auf Autobahnen noch mal eine Verbesserung bringen würde.

Hier mal Zahlen für andere Risiken zum Vergleich:

https://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/deutschland-unnatuerliche-todesfaelle-blitz-pilzvergiftung-tierbiss-a-1121159.html

Für mich sind in solchen Fragen die Betrachtung der realen Risiken elementar für die Beurteilung einer philosophischen Sicht der Dinge. Jeder kann jederzeit zur Gefahr für andere werden - das ist normal und damit müssen wir leben und wir würden lebensunfähig werden, wenn wir dieses Risiko wirklich zu 100% ausschließen wollten. Ich halte es aber für einen ethischen Ansatz, dieses Risiko so kleinzuhalten, wie es mir möglich ist, ohne dass dabei gleichzeitig ein normales Leben unmöglich wird.

Es beantwortet aber die Frage nach unseren eigentlichen Idealen und Werten nicht. Und auch nicht, wie viel wir uns hier selber vormachen. Darum geht es hier aber.

Wenn ich die Frage nach den realen Risiken ausklammere, dann mache ich mir auf jeden Fall etwas vor.

Ich hielte es für wichtig, das reale Risiko zu kennen und gleichzeitig mir Gedanken zu machen, wie ich diese Risiken minimieren kann - zusammen mit den Konsequenzen, die ich daraus ziehe.

Nehmen wir nur mal das Thema Lebensmittelsicherheit in Deutschland: Ich meine, dass wir gute Gesetze haben, die garantieren, dass wir sichere Lebensmittel haben.

Natürlich ginge immer noch mehr - aber dann muss ich mir bewusstmachen, dass eine Verschärfung von Regeln und Grenzwerten, immer auch andere Konsequenzen haben wird - z.B. auf die Menge der Lebensmittel, die ich produzieren kann oder den Preis, den diese am Markt haben.

Und dann muss ich mich fragen: Ist es verantwortbar, dass Menschen hungern müssen, nur weil ich ein schon geringes Risiko noch weiter minimieren will?

Gestern habe ich einen Beitrag im Fernsehen zum Medizinproduktegesetz in Europa gelesen. Das Gesetz hat ganz sicher eine positive Intention - aber wenn die Konsequenz die ist, dass durch dieses Gesetz, eine Produktion von Medizinprodukten unwirtschaftlich wird und die ganze Industrie in die USA auswandert - habe ich mir selber dann nicht einen Bärendienst erwiesen.

Solche Dinge müssen in meine Ethik, in meine Philosophie mit einfließen, damit meine theoretischen Überlegungen mich nicht selber blockieren und ich oder das System, das ich damit schaffe, am Ende aus Ängsten heraus lebensunfähig wird.

goodfruit antworten
Lucan-7
(@lucan-7)
Beigetreten : Vor 13 Jahren

Beiträge : 21306

@goodfruit 

Eine Philosophie, die keine Entsprechung in der realen Welt findet, halte ich für akademisch belanglos. Was soll das bringen?

Ich denke, wir reden immer noch aneinander vorbei...

Es geht um eine Philosophie, von der wir glauben, dass wir ihr folgen. Greifen wir mal dein Beispiel auf. Was ist wichtiger - ein Menschenleben, oder eine Autofahrt, auf die du auch ganz gut verzichten könntest?

Die Antwort lautet doch wohl: Ein Menschenleben ist selbstverständlich wichtiger!

Du schreibst jetzt:

In Deutschland starben 2022 2782 Menschen im Straßenverkehr.

Wie du ganz richtig sagst, wäre es illusorisch alle diese Tode verhindern zu wollen. Ein gewisses Restrisiko bleibt immer bestehen.

Angenommen, es wären 1500 Autofahrten gewesen, die diese Zahl an Toten verursacht hat. Wieviele dieser Fahrten waren wohl prinzipiell überflüssig? Darüber könnte man sicher eine Statistik erstellen. Fahrten, um einen Freund zu besuchen, den wir letzte Woche erst gesehen haben. Um eine Packung Milch zu besorgen, die man zuvor vergessen hat. Ein Ausflug in den Wald. Irgendwas, auf das man auch hätte verzichten können.

Ich kann nicht sagen, wieviele dieser geschätzten Fahrten tatsächlich "überflüssig" gewesen sind. Vielleicht waren es 100, vielleicht 500, vielleicht auch nur 10.

Fest steht aber: Hätten diese überflüssigen Fahrten nicht stattgefunden, wären zumindest die dort betroffenen Leute noch am Leben. Oder anders gesagt: Die Beschränkung aller Autofahrten auf das Allernotwendigste würde ganz konkret Menschenleben retten. Vielleicht nicht sehr viele - aber ein paar bestimmt!

Aber verzichten wir deswegen auf unnötige Autofahrten? Denken wir überhaupt darüber nach?

Eigentlich nicht. Und das heißt: Menschenleben sind hier keineswegs "das Wichtigste"! Die Freiheit, jederzeit Autofahren zu dürfen, ist uns mehr wert als ein paar dutzend, vielleicht sogar hundert Menschenleben!

Das ist das Prinzip, um das hier geht...

 

lucan-7 antworten
GoodFruit
(@goodfruit)
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@lucan-7 Es geht um eine Philosophie, von der wir glauben, dass wir ihr folgen. Greifen wir mal dein Beispiel auf. Was ist wichtiger - ein Menschenleben, oder eine Autofahrt, auf die du auch ganz gut verzichten könntest?

[...]Aber verzichten wir deswegen auf unnötige Autofahrten? Denken wir überhaupt darüber nach?

Eigentlich nicht. Und das heißt: Menschenleben sind hier keineswegs "das Wichtigste"! Die Freiheit, jederzeit Autofahren zu dürfen, ist uns mehr wert als ein paar dutzend, vielleicht sogar hundert Menschenleben!

Lucan, ich versuch Deine Philosophie mal in eigene Worte zu fassen. Bitte lass mich wissen, ob ich das einigermaßen hinbekommen habe.

Ich lebe als Mensch in einem lebensgefährlichen Umfeld. Der Mensch ist sterblich und es gibt Gefahren, die z.T. auch von mir für mich selber und andere ausgehen, die das Risiko zu sterben, erhöhen. Dies gilt es in meinem Verhalten zu berücksichtigen und ich bin verantwortlich für all mein Tun. Damit trage ich auch Verantwortung für die Konsequenzen meines Tuns in Hinblick auf eine Erhöhung des Risikos, fatalen Schaden anzurichten.

Ich kann das Risiko, das von mir ausgeht, nicht auf null reduzieren - aber ich kann mich bemühen, es so gering wie irgend möglich zu halten.

Lucan, bis zu diesem Punkt sind wir uns wohl einige. Aber jetzt kommt die Stelle, wo wir vermutlich anderer Ansicht sind. Ich versuche mal Deine Position mit eigenen Worten wiederzugeben und dann meine Position dagegenzustellen.

Ein Menschenleben ist von höchstem Wert und ich bin gehalten, eine Bilanz aufzumachen, in der ich all mein Tun an dem Risiko, ein Menschenleben zu gefährden, rechtfertigen muss. Für alles, was ich tue, muss ich mich fragen: Ist dieses Tun es Wert, ein Risiko für mich und andere auch nur ein klein wenig heraufzusetzen? Damit ist ein ethisch-moralisches Wertesystem aufgemacht, vor dem ich alles, was ich im Leben tue, rechtfertigen muss und bei dem jeder Schritt, den ich unnötigerweise mache, mich moralisch diskreditiert.

Und jetzt kommt meine Sicht der Dinge: Ich bin von Gott in eine Welt gestellt, die materiell und sterblich ist. Eine meiner zentralen Aufgaben in dieser Welt ist es, in der Beziehung zu Gott in dieser Welt zu leben, sie mit meinen Sinnen zu erleben und die Eindrücke, die in mein Herz kommen, mit meinem Gott zu teilen. Die Welt, in der ich lebe, ist Schöpfung Gottes, die der Schöpfer liebt und die ihm wichtig ist. Ich agiere in dieser Welt, indem ich sie mit der aus dieser Erkenntnis erwachsenden Achtung begegne und ihr die Liebe Gottes entgegenbringe, mit liebendem Herzen mit ihr umgehe.

Durch meine Hinwendung zu Jesus Christus bin ich Kind Gottes geworden. Ein Kind ist nicht schuldfähig, weshalb es auch unmöglich ist, mich in moralischen Kategorien zu messen und weshalb es unangebracht ist, mir eine Verantwortung anlasten zu wollen, die ich nicht tragen kann und muss. Als Kind des Höchsten ist mir alles geschenkt. Mein Vater ist mein Versorger und er gibt mir im Überfluss. Alles, was ich tun sollte ist, den Kontakt zum Vater und meinem Herrn Jesus Christus, durch den ich erst Kind Gottes werde, aufrecht zu halten und in der Beziehung mit diesem dreieinigen Gott mein Leben auf Erden zu leben.

Der Wille des Vaters wird mir nicht nur in der direkten Beziehung zu ihm, sondern auch in Gottes Wort deutlich. Die Gebote Gottes sind mir zwar kein Gesetz mehr, das mich verdammen könnte - aber es sind Richtlinien, die mir helfen im Willen Gottes zu bleiben. Wenn ich jetzt also im Straßenverkehr unterwegs bin, dann habe ich einmal die staatlichen Gesetze, die Verkehrsordnung einzuhalten. Tue ich dies, dann kann mich darauf verlassen, mich in einem System zu bewegen, in dem das Risiko von Fachleuten wohl kalkuliert und minimiert ist - auf einen Wert hin, den die Gesellschaft, die sich die Regierung gewählt hat, für akzeptabel hält.

Darüber hinaus bin ich als Kind Gottes unterwegs, was bedeutet, dass die Liebe Gottes mein Handeln bestimmt. Jeder andere Verkehrsteilnehmer ist mein Nächster, den ich achte und liebe. In diesem Sinne bin ich bemüht, Schaden von ihm fernzuhalten. Ich fahre nicht nur nach den Verkehrsvorschriften, sondern bin aufmerksam in jeder aktuellen Situation, um das Risiko in dem mir möglichen Maße kalkulierbar gering zu halten. Das bedeutet z.B. dass ich meine Geschwindigkeit bei widrigen Straßen oder Sichtbedingungen so anpasse, dass ich immer noch die Verkehrssituation unter Kontrolle behalten. Darüber hinaus bin ich bemüht, mit Fehler anderer zu rechnen, um es ihnen im Falle von Fehlern zu ermöglichen, diese durch den Raum, den ich ihnen gebe, korrigieren zu können. Darüber hinaus bin ich ja mit dem Vater und dem Heer des Himmels in Kontakt, sodass ich jederzeit Hilfe aus dieser Sphäre in die Situation hineinrufen kann.

Ich bin mir bewusst, dass ich nicht in der Lage bin, den Wert meines Tuns in der Weise zu bemessen, dass ich dies einer möglichen Erhöhung des Micromorts für mich und andere abzuwägen. Ich weiß nicht, wie wichtig ein Waldbaden für mich am Wochenende ist, und wie elementar diese Naturbegegnung für meine Ausgeglichenheit in der darauf folgenden Woche ist - inklusive der dann größeren Fähigkeit, möglicherweise tödliche Risiken im Alltag zu erkennen und abzuwägen, kontrollierter in hochriskanten Situationen zu agieren.

Ich bin mir bewusst, dass eine Verantwortung über das Akzeptieren und Einhalten der staatlichen Regeln hinaus nicht besteht und auch nicht tragbar wäre, weil ich in vielen Fällen nicht dazu in der Lage bin, all die Konsequenzen aus meinem Tun richtig abzuschätzen. Das Unterlassen eines Tuns wird immer zugleich an einer Stelle Risiken erhöhen und zugleich Risiken an anderer Stelle verringern. Wenn eine Autofahrt mir hilft, zu einer dringend benötigten Erholung zu kommen oder einfach an dem Ort zu sein, wo Gott mich grad gebrauchen will, dann kann das Risiko, das ich dadurch minimiere, ungleich größer sein, als wie ich das Risiko, dass ich durch den puren Umstand, dass ich mich in einem System mit Restrisiko bewege, erhöhe.

Durch eine die Regeln achtende, liebevolle und defensive Grundhaltung im Straßenverkehr kann ich das Risiko im Straßenverkehr deutlich verringern. Als Christ bin ich gehalten, dies zu tun.

Ich befürchte, dass ein einfaches Übertragen der Verantwortung, des Eingehens eines Risikos auf Einzelpersonen, immer eine Überforderung der Einzelperson sein wird und zu einem pathologisch gehemmten, von Schuldgefühlen geprägten, von ständiger Unsicherheit begleiteten und damit in hohem Maße ungesunden Leben führen wird. Das gesundheitliche Risiko, dass so ein Lebensstil nach sich ziehen würde, ist mit großer Sicherheit mit einem höheren Micromort belegt, als wie jedes Risiko im Straßenverkehr das je sein könnte.  Man denke nur an schwere psychosomatische Erkrankungen oder das höhere Krebsrisiko, dass eine solches von Zwängen belastetes Leben nach sich ziehen würde. Von der mit so einem unter starken moralischen Zwang und ethischen gegründeten Unsicherheit belegten Leben dürfen wir darüber hinaus keine großen intellektuellen Leistungen mehr erwarten. Damit ist jede Person, die unter so ein Regime gerät, von der Beteiligung an der Lösung zentraler Fragen der Menschheit, ausgeschlossen.

Wie immer, bringt erst die Betrachtung der Folgen einer Maßnahme im systematischen und weit gedachten Kontext, eine sinnvolle Einschätzung derselben. Ein ethisch-moralisches System, das solches nicht leistet, sollte sich eine moderne und verantwortungsbewusste Gesellschaft sich nicht mehr leisten.

goodfruit antworten
Lucan-7
(@lucan-7)
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@goodfruit 

Ein Menschenleben ist von höchstem Wert und ich bin gehalten, eine Bilanz aufzumachen, in der ich all mein Tun an dem Risiko, ein Menschenleben zu gefährden, rechtfertigen muss. Für alles, was ich tue, muss ich mich fragen: Ist dieses Tun es Wert, ein Risiko für mich und andere auch nur ein klein wenig heraufzusetzen? Damit ist ein ethisch-moralisches Wertesystem aufgemacht, vor dem ich alles, was ich im Leben tue, rechtfertigen muss und bei dem jeder Schritt, den ich unnötigerweise mache, mich moralisch diskreditiert.

Richtig. Und es geht natürlich auch um die Frage, wo hier denn eine vernünftige Grenze ist. Denn natürlich ist es unmöglich, jedes Risiko vollkommen auszuschließen. Egal was ich tue, es ist immer möglich, dass ich dadurch andere Menschen gefährde. Wenn ich den Dachdecker-Azubi nach oben schicke, um den Hammer zu holen, den ich auf dem Dach vergessen habe, dann gefährde ich damit prinzipiell sein Leben - und sollte deshalb besser selber gehen. Nun hatte der Azubi aber eine Sicherheitsschulung und wurde in allen relevanten Dingen unterwiesen, alle sicherheitsrelevante Ausrüstung ist vorhanden, das sollte also kein Problem sein dass der Kerl den Hammer holt und heil wieder runterkommt. Aber das Risiko, dass ihm etwas passiert ist eben nicht Null. Und ähnlich ist es auch mit unnötigen Autofahrten.

Das ist aber nicht ganz das Thema dieses Threads, auch wenn es in die gleiche Richtung geht. Thema des Threads war ja, ganz bewusst Leben zu retten, wenn wir die Möglichkeit dazu haben. Und das ist mit Hilfe von Spenden ja ohne weiteres möglich. Je mehr wir an Hilfsorganisationen spenden, desto mehr Leben können in der Welt gerettet werden. Wenn wir also sagen, dass Leben das Wertvollste auf der Welt ist, dann sollten wir so viel spenden wie es uns eben gerade möglich ist - und auf "Luxus" völlig verzichten.

Das tun wir aber nicht. Auch Menschen, die tatsächlich viel spenden, gönnen sich meist auch selbst etwas. Und das finden wir in Ordnung... ich selber tue das ja auch.

Aber das heißt eben auch, dass wir uns an dieser Stelle etwas vormachen. Leben zu retten hat nicht die höchste Priorität für uns, sondern ist nur ein Schwerpunkt von vielen. Und da stellt sich halt die Frage, wie ehrlich wir an dieser Stelle zu uns selbst sind.

Und jetzt kommt meine Sicht der Dinge: Ich bin von Gott in eine Welt gestellt, die materiell und sterblich ist. Eine meiner zentralen Aufgaben in dieser Welt ist es, in der Beziehung zu Gott in dieser Welt zu leben, sie mit meinen Sinnen zu erleben und die Eindrücke, die in mein Herz kommen, mit meinem Gott zu teilen.

Nun, das ist jetzt natürlich eine sehr persönliche Sichtweise... damit kann ich nichts anfangen, und ich denke auch nicht, dass sich das verallgemeinern lässt. Gibt ja nicht nur gläubige Menschen in der Welt - und auch die werden dem nicht immer zustimmen, sondern manche Schwerpunkte anders setzen.

 

 

 

lucan-7 antworten
GoodFruit
(@goodfruit)
Beigetreten : Vor 3 Jahren

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@lucan-7 Nun, das ist jetzt natürlich eine sehr persönliche Sichtweise... damit kann ich nichts anfangen, und ich denke auch nicht, dass sich das verallgemeinern lässt. Gibt ja nicht nur gläubige Menschen in der Welt - und auch die werden dem nicht immer zustimmen, sondern manche Schwerpunkte anders setzen.

Beim Christsein geht es ja eben darum, dass ich Gott diene und ihm erlaube, die Schwerpunkte in meinem Leben zu setzen. Und wenn da Leben-retten daran ist und Gott führt mich da hinein, dann wird Leben gerettet. Und dann wird es auch gelingen - anders vielleicht, als wenn ich hirnlos in ein brennendes Haus gehe, ohne zu wissen, ob da überhaupt noch jemand drin ist. Viele Aktionen, die Menschen sich erdenken, sind leider nur gut gemeint und nicht zielführend. Und wenn es mir möglich ist, professionelle Hilfe zu holen, dann ist das besser, als wenn ich an einem Unfallopfer Schaden anrichte, weil ich da amateurhaft den Gesundheitszustand dramatisch verschlechtere.

goodfruit antworten
Arcangel
(@arcangel)
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@lucan-7 

so lange kann eigentlich niemand guten Gewissens Luxusprodukte kaufen.

Fang mal am anderen Spektrum an. Viele Produkte sind nur deshalb so erschwinglich, weil sie billig produziert werden und Menschen dafür ausgebeutet werden.

Dass unser Brot so billig ist, hängt von internationalen Produktionsketten ab. Von der Düngemittelproduktion, Transport, Verarbeitung etc. (End of thinking capacity, der ist mir heute begegnet 🙂 ) ab. Viele dieser Produktionen oder Dienstleistungen sind nur deshalb so billig, weil Menschen ausgebeutet werden. Das beginnt bei den unmenschlichen Bedingungen beim Düngemittelabbau und geht bis zum Hungerlohn für Lastenwagenfahrer.

Wills du jetzt aber sagen, dass Familien am Existenzminimum lieber das teurere Luxusprodukt Fairtrade kaufen sollen, als das Billigbrot aus dem Grossverteiler.

arcangel antworten
Lucan-7
(@lucan-7)
Beigetreten : Vor 13 Jahren

Beiträge : 21306

@arcangel 

Fang mal am anderen Spektrum an. Viele Produkte sind nur deshalb so erschwinglich, weil sie billig produziert werden und Menschen dafür ausgebeutet werden.

Natürlich ist das ein komplexes Thema, das sich nicht einfach lösen lässt indem wir jetzt andere Prioritäten setzen.

Aber bevor man überhaupt über Lösungen nachdenkt stellt sich ja erst einmal die Frage: Was sind überhaupt unsere Ziele? Wo sollten wir Prioritäten setzen?

Bevor man das nicht weiss braucht man auch nicht über die Umsetzung nachdenken. Aber sollte die Menschheit irgendwann die Priorität von "Luxusprodukten" auf "Grundversorgung für alle" setzen, dann hätte das natürlich auch erhebliche Auswirkungen auf die weltweite Wirtschaft.

Momentan sieht es zwar nicht danach aus, aber wer weiss was kommt... und ob wir nicht noch zum Umdenken gezwungen werden.

 

 

lucan-7 antworten
GoodFruit
(@goodfruit)
Beigetreten : Vor 3 Jahren

Beiträge : 2561

@lucan-7 Priorität von "Luxusprodukten" auf "Grundversorgung für alle" setzen, dann hätte das natürlich auch erhebliche Auswirkungen auf die weltweite Wirtschaft.

Stehen Luxusprodukten wirklich einer Grundversorgung für alle im Wege? Ich stelle diese Frage, weil sich mir der direkte Zusammenhang nicht automatisch erschließt und ich einen entsprechenden Mechanismus auch anzweifle. Steht der Bau eines Rolls-Royce wirklich einer Investition in das Schienennetz entgegen? Ich kann so einen Zusammenhang ehrlich gesagt nicht erkennen.

goodfruit antworten
Lucan-7
(@lucan-7)
Beigetreten : Vor 13 Jahren

Beiträge : 21306

@goodfruit 

Stehen Luxusprodukten wirklich einer Grundversorgung für alle im Wege?

Das ist eine Frage der Priorität. Unsere Priorität sollte auf "Grundversorgung für Alle" liegen.

Ist diese gewährleistet spricht ja nichts dagegen, zusätzlich noch "Luxusprodukte" herzustellen. Aber eben erst dann.

 

lucan-7 antworten
GoodFruit
(@goodfruit)
Beigetreten : Vor 3 Jahren

Beiträge : 2561

@lucan-7 Das ist eine Frage der Priorität. Unsere Priorität sollte auf "Grundversorgung für Alle" liegen.

Das kann ich nachvollziehen und ich halte das auch für richtig.

Die Frage ist nur: wie bekommen wir das hin?

Dazu müssen wir erst einmal ein paar Fragen klären:

Was muss durch die Grundversorgung abgesichert sein und auf welchen Ebenen?

Da haben wir einmal die private Grundversorgung, dass jeder Mensch sich eine zu Hause leisten kann, menschenwürdig und beheizbar und jeder genug zu essen und zu trinken hat.

Und dann gibt es eine öffentliche Grundversorgung wie die Versorgung mit Strom, Gas, Wasser, Mobilitätsangebote.

Ich denke, dass wir da aktuell schon Angebote haben - auch wenn die sicher oft nicht optimal sind. Ich sehe da eher die Gefahr, dass durch Inflation oder vermehrte Arbeitslosigkeit, weil Deutschland nicht mehr bei der Produktion von angesagten technologischen Produkte vorne mit dabei ist, ein stark erhöhter Bedarf zu erwarten ist bei gleichzeitig abnehmenden Steuereinnahmen, was den Topf, der zu verteilen ist, kleiner macht.

Da muss vorgesorgt werden und da ist es die Aufgabe der Politik, die Dinge wohlüberlegt und geführt zu leiten und verwirklichen.

Es gibt da sicher verschiedene Konzepte, so etwas zu verwirklichen.

Ich würde es vorziehen, wenn diese Konzepte dazu führen, dass die Menschen befähigt werden, selber für ihre Grundversorgung zu sorgen. Das bedeutet, dass Deutschland die anstehenden wirtschaftlichen Herausforderungen wie die Energiewende mit technologisch führenden Wirtschaftsprodukten und Leistungen beantwortet. Es gibt viel zu tun - packen wir es an! Und bezugnehmend auf der Branche, der dieser Werbeslogan entstammt darf da gerne auch eine Beteiligung an die Verwirklichung dieser Aufgaben eingefordert werden.

Leider kann man in Europa allzu oft das Gegenteil von dem, was dran ist, beobachten: Statt Entwicklungen und Unternehmen zu fördern, werden diese Stolpersteine auf den Weg gelegt oder überhaupt eine konkurrenzfähige Existenz verwehrt.

Ich hätte gerne einen Sion gekauft. https://www.adac.de/rund-ums-fahrzeug/autokatalog/marken-modelle/sono-motors/sono-motors-sion/

Sicher ist der Sharing Gedanke auch noch mal interessant - aber mich hätte das Auto auch als Familienauto interessiert. Wenn ich den immer schön in der Sonne geparkt hätte, bräuchte der bei meiner Jahreskilometerleistung kaum an die Steckdose.

Ich hätte mir gerne eine Salzbatterie oder eine Redox-Flow Batterie in den Keller gestellt: umweltfreundlich, weil es ohne problematische Rohstoffe auskommt und darüber hinaus langlebige Technologie ist, von der wenig Gefahren ausgehen wie thermisches Durchgehen. Gibt es nicht, weil Unternehmen mit der Markteinführung gescheitert sind.

Da kann man sich fragen: warum klappen all diese Start-ups, die wirklich zielführende Technologie schon weit entwickelt hatten, nicht? Ich hielte es für wichtiger, da Hindernisse aus dem Weg zu räumen und mit Kapital zu fördern als wie an anderer Stelle zu schröpfen und ohne wirkliche Wettbewerbsvorteile daraus zu ziehen, Kapital über Steuern zusätzlich abzugreifen und das Geld einfach so in die Grundversorgung zu stecken.

In den USA beginnt man dort einiges besser zu machen - zu Lasten derer, die den A... nicht hochbekommen und die Aufgaben der Zeit nicht meistern - also wir in Europa ...

goodfruit antworten
Lucan-7
(@lucan-7)
Beigetreten : Vor 13 Jahren

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@goodfruit 

Das kann ich nachvollziehen und ich halte das auch für richtig.

Die Frage ist nur: wie bekommen wir das hin?

Dazu müssen wir erst einmal ein paar Fragen klären:

Was muss durch die Grundversorgung abgesichert sein und auf welchen Ebenen?

Tja, das ist halt die Frage. Spontan würde ich sagen: Planwirtschaft, evtl mit Unterstützung von KI. Aber Planwirtschaft hat in der Vergangenheit halt gar nicht funktioniert... und das eben (unter anderem) genau aus dem Grund, dass wir nur ungern für Menschen arbeiten, die weit weg sind. Da fehlt einfach die Motivation.

Meine Vermutung ist, sollte ich jetzt eine Prognose für die Zukunft abgeben, dass es jetzt erst mal wieder bergab geht. Bedingt durch den Klimawandel werden Kriege und Hungersnöte kommen, in einem weltweiten Ausmaß.

Irgendwann wird das aber auch aufhören, und die Menschheit wird sich dann - hoffentlich - zusammenraufen, erkennen dass es auf diese Weise nicht weitergeht und durch internationale Zusammenarbeit letztlich viel mehr erreicht werden kann.

Vielleicht gibt es dann nach dieser Erfahrung auch neue Motivation für die nächsten Generationen, die Welt insgesamt etwas freundlicher zu gestalten. So lange, bis auch das wieder in Vergessenheit gerät und alles von vorne losgeht...

 

 

 

lucan-7 antworten
GoodFruit
(@goodfruit)
Beigetreten : Vor 3 Jahren

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@lucan-7 Meine Vermutung ist, sollte ich jetzt eine Prognose für die Zukunft abgeben, dass es jetzt erst mal wieder bergab geht. Bedingt durch den Klimawandel werden Kriege und Hungersnöte kommen, in einem weltweiten Ausmaß.

Hallo Lucan,

es gibt leider gute Gründe, das für eine realistische - vielleicht sogar für die wahrscheinlichste Perspektive zu halten.

Wir kennen die Problematik der Klimakrise, wir wissen, was zu tun ist.

Ich behaupte mal, dass wir technologisch deutlich weiter sind, als wie es die aktuell vermarkteten Produkten entspricht. Ich kann - ich will - ich muss!

Das einzige Problem in dieser Kette scheint mir zu sein: "ich will"

Da stehen wir heute und nun kann ich mir überlegen, mich mental auf eine distrophe Situation auszurichten oder auf die Verwirklichung einer Welt zu drängen, in der das Wirtschaften des Menschen den Planeten nicht ruiniert und gleichzeitig jeder versorgt wird. Du hast diese Vision ja auch:

Irgendwann wird das aber auch aufhören, und die Menschheit wird sich dann - hoffentlich - zusammenraufen, erkennen dass es auf diese Weise nicht weitergeht und durch internationale Zusammenarbeit letztlich viel mehr erreicht werden kann.

Warum durch die Phase des großen Leids und der Not zu gehen, wenn diese vielleicht doch noch zu verhindern wäre? Ich bin da der, der nie aufgibt. Das ist kein besonderes Verdienst von mir, sondern mehr so meine Natur. Ich habe auch kein Problem damit, als realitätsferner Träumer betrachtet zu werden. Ja, ich muss da ganz viel an Veränderung erhoffen - aber ich halte all das für möglich.

Im Grunde genommen glaube ich, dass wir ganz knapp davor sind - wir müssten uns nur zusammennehmen, nur eine gemeinsame Kraftanstrengung, die richtigen Entscheidungen, mutige Investitionen und vor allem ein Verzicht auf Egotouren, Versuche, persönlichen oder nationalen Nutzen aus der Situation zu ziehen, immer noch das größere Stück vom Kuchen haben zu wollen, denn so ein Mindset wird nie mit einem ökologisch funktionierenden Wirtschaften und einer guten Versorgung der Menschheit zusammenpassen.

Wenn die Menschheit das jetzt nicht hinbekommt - warum sollten wir annehmen, dass sie es nach einer großen und schweren Krise besser hinbekommt? Wir wissen alles, wir können mehr als wir uns zutrauen - wir müssen nur wollen.

Wenn wir das jetzt nicht hinbekommen, dann wird es sehr wahrscheinlich nie passieren. Und dann ist es aber auch nicht schade, wenn der blaue Planet sein intelligentes Wesen verliert - der starke Mann hat dann die Menschheit zum universalen Fail gemacht - zu stark und egoistisch, um längerfristig überlebensfähig zu sein. Seien wir ehrlich: wenn wir es nicht besser können, dann wäre da nicht viel verloren ...

Aber bis es so weit ist, werde ich weiter hoffen.

 

goodfruit antworten
Lucan-7
(@lucan-7)
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Beiträge : 21306

@goodfruit 

Warum durch die Phase des großen Leids und der Not zu gehen, wenn diese vielleicht doch noch zu verhindern wäre? Ich bin da der, der nie aufgibt.

Natürlich ist Aufgeben keine Option. Aber wenn man sich die Welt so anschaut, dann wird die Klimakrise nach wie vor nicht als Problem der ganzen Menschheit, sondern als Problem Einzelner verstanden, um das man sich kümmern kann... aber nicht muss.

Ich fürchte, die Menschheit ist tatsächlich so gestrickt, dass sie erst aus Katastrophen lernt. Selbst der 1. Weltkrieg hat nicht gereicht, dass Völkerverständigung der bessere Weg ist... es musste erst noch der zweite Weltkrieg kommen, bis sich die Nationen angenähert haben. Und selbst dann beäugten sie sich noch misstrauisch im "Kalten Krieg"...

Die Titanic muss offenbar erst untergehen, damit die Reeder freiwillig die teuren Rettungsboote installieren. Und mit dem Klimawandel und den nächsten Problemen scheint es, so fürchte ich, ähnlich zu sein.

Ich höre noch viel zu oft aus meinem Umfeld, dass man dies und jenes zugunsten des Klimas nicht machen kann, weil dann die Wirtschaft leidet. "Die Wirtschaft" scheint so eine Art Götze unserer Zeit zu sein - als ob es nur die eine gäbe und ohne diese Wirtschaft auch kein Überleben möglich sei.

Dass man auch die Wirtschaft anders gestalten könnte... undenkbar!

Nun ja. Mit der Natur kann man nicht verhandeln. Entweder die Wirtschaft passt sich an - oder der Klimawandel erledigt die Wirtschaft auf seine Weise.

 

 

lucan-7 antworten
GoodFruit
(@goodfruit)
Beigetreten : Vor 3 Jahren

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@lucan-7 Ich höre noch viel zu oft aus meinem Umfeld, dass man dies und jenes zugunsten des Klimas nicht machen kann, weil dann die Wirtschaft leidet. "Die Wirtschaft" scheint so eine Art Götze unserer Zeit zu sein - als ob es nur die eine gäbe und ohne diese Wirtschaft auch kein Überleben möglich sei.

Lucan, die Wirtschaft braucht ja grade Innovationen, neue Produkte und Anreize, dass es zu neuem Konsum kommt.

Wenn ich grad weniger konsumiere, dann nicht, weil ich keinen Bedarf hätte oder weil ich Konsumverzicht übe, um jemanden zu strafen oder zu protestieren - es gibt die Artikel, von denen ich weiß, dass die Forschung dazu längst abgeschlossen ist, einfach nicht zu kaufen!

Ein Problem, dass Unternehmen sich nicht an wirklich nachhaltige Produkte wagen, scheint mir die Sorge zu sein, dass, wenn mal alle versorgt sind und es für Jahrzehnte keinen Neubedarf mehr gibt, der Markt zusammenbricht.

Da muss dann halt ein Umdenken her, dass ich nicht mehr Gerät allein, sondern die Versorgung mit dem Gerät zusammen anbiete - das bedeutet: Gerät gibt es nur mit Servicevertrag. Und das ist ja auch sinnvoll so, denn nur ein gut gewartetes und aktuell gehaltenes Gerät wird auch vernünftig funktionieren.

Die Firma Pentax hat 2016 die digitale Spiegelreflexkamera K1 herausgebracht. Ich habe diese Kamera und sie funktioniert immer noch super. 2018 gab es eine überarbeitete Generation - die K1ii. Wer die alte K1 hatte, der konnte die an Pentax einbauen und die haben dann ein elektronisches Bauteil umgerüstet, sodass man die Technologie der neusten Kamera mit seinem alten Sensor und dem alten Gehäuse hatte. So etwas hört man leider sehr, sehr selten. Aber so müsste es doch laufen, wenn es umweltverträglich sein soll.

Viele Geräte laufen mit Computervernetzung. Die Technologie geht überall weiter und irgendwann kann man in eine Situation kommen, dass die Kompatibilität nicht mehr gegeben ist. Muss man da wirklich jedes Mal ein neues Gerät kaufen - oder wäre es nicht möglich, da einige Teile der Hardware auszutauschen oder eventuell nur eine neue Firmware aufzuspielen. Es erwartet ja niemand, dass das umsonst passieren muss (wenn denn das Gerät das hält, was versprochen wurde und das Update nicht nur eine Bugfix ist). Firmen können doch kalkulieren, dass sie ihren Umsatz erzielen, indem sie einen Gerätestamm bei den Kunden immer auf den optimalen Stand halten.

Es gibt so viele Berichte von Fortschritten in der Umwelttechnologie - und es kommen aber keine Produkte dabei heraus. Wenn ich sehe, wie weit der Sion entwickelt wurde und auf was für einen Entwicklungsstand dieses Fahrzeug nun nicht in die Produktion geht, dann macht mich das zornig. Ich bin da nicht zornig auf die Macher, die mutig und mit viel Ausdauer den Weg der Entwicklung gegangen sind und deren Entscheidung, das Produkt sterben zu lassen, sicher wirtschaftlich gut begründet ist. Ich bin zornig auf die Wirtschaft und die Politik, der es nicht gelingt, solche Innovationen in Produkte umzusetzen.

Es ist so unendlich teuer, ein neues komplexes Produkt auf den Markt zu bringen, dass es Neulingen kaum gelingen dürfte. Da müsste man mal prüfen, ob es da nicht Unterstützung geben müsste, damit die vielen Regeln, die zumeist Sicherheit bringen sollen, nicht zum Hemmschuh für das Überleben der Menschheit oder - ne Dimension kleiner - der nationalen Wirtschaft werden.

So viele Bereiche der Wirtschaft werden durch Subventionen geregelt - Subventionen, die allzu oft gesunde wirtschaftliche Verhältnisse verhindern und missbräuchlich verwendet werden. Ist es da zu viel verlangt, innovative Technologie massiv zu subventionieren, damit die Wirtschaft die Forderungen in Bezug auf die Umwelt nicht mehr als Belastung, sondern als Antrieb in eine neue Zeit der Blüte erlebt?

Wir scheinen in Strukturen erstarrt zu sein, die nicht mehr passen. Und oft genug sind es grade Strukturen, die mehr Sicherheit bringen sollten und nun aber verhindern, dass wir aus den eingefahrenen Wegen ausbrechen können. Ich fordere hier nicht weniger Sicherheit, aber ich fordere Hilfen, die Folgen der Regelwerke zu überwinden und notwendige Innovation wieder möglich zu machen.

 

goodfruit antworten
Lucan-7
(@lucan-7)
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@goodfruit 

Wenn ich grad weniger konsumiere, dann nicht, weil ich keinen Bedarf hätte oder weil ich Konsumverzicht übe, um jemanden zu strafen oder zu protestieren - es gibt die Artikel, von denen ich weiß, dass die Forschung dazu längst abgeschlossen ist, einfach nicht zu kaufen!

Was wohl stark damit zusammenhängt, dass Produkte, die gut und nützlich für die Umwelt sind, einfach auch viel zu teuer sind.

Und da sind wir wieder beim Thema... selbst Leute, die es sich leisten könnten, greifen trotzdem zum billigen Produkt. Trotz des Wissens, wie sehr diese Produkte unserem Planeten schaden.

lucan-7 antworten
GoodFruit
(@goodfruit)
Beigetreten : Vor 3 Jahren

Beiträge : 2561

@lucan-7

denen ich weiß, dass die Forschung dazu längst abgeschlossen ist, einfach nicht zu kaufen!

Was wohl stark damit zusammenhängt, dass Produkte, die gut und nützlich für die Umwelt sind, einfach auch viel zu teuer sind.

Ja, die Produkte sind teuer - aber ich bin mir sicher, dass es Menschen gibt, die bereit wären, das zu zahlen - insbesondere, wenn es Produkte gibt, die zum Symbol einer Zeitenwende werden könnten. Solches Potenzial hätte ich beim Sion gesehen.

Ich denke, dass der hohe Preis mit zwei Dingen zu tun hat: Einmal ist da Perfektionismus, der Dinge oft unnötig verteuert - und dann ist es einfach unglaublich teuer Produkte auf den Markt zu bringen, die noch eine gewisse Sicherheitsrelevanz mitbringen. Letzteres ist wohl kaum vermeidbar, aber es wäre möglich vonseiten des Staates Entrepreneurship an dieser großen Hürde massiv zu fördern. Es gibt Geld für neue Entwicklungen, was gut ist und hilft. Aber wenn aus diesen Entwicklungen keine Produkte werden, weil die Projekte an einer späteren und viel höheren Schwelle scheitern, dann ist das Geld für die Entwicklungen zum Fenster rausgeschmissen. Wenn wir eine ernsthafte Wende in der Energiepolitik wollen, die auch der Bürger mitträgt, dann muss es einfach neue Technologien auf dem Markt geben.

Ich habe so ein wenig die Befürchtung, dass man uns erst für das Problem sensibilisiert - und wenn nichts passiert, uns verantwortlich macht, dass wir nicht gehandelt haben. Und das ist dann unfair, weil Handeln ja oft gar nicht möglich ist.

goodfruit antworten
Lucan-7
(@lucan-7)
Beigetreten : Vor 13 Jahren

Beiträge : 21306

@goodfruit 

Ich habe so ein wenig die Befürchtung, dass man uns erst für das Problem sensibilisiert - und wenn nichts passiert, uns verantwortlich macht, dass wir nicht gehandelt haben. Und das ist dann unfair, weil Handeln ja oft gar nicht möglich ist.

Ich vermute, je schlechter es uns ergehen wird, desto mehr Schuldige werden dann gefunden werden, auf die man sich stürzen wird.

Ich rechne mit einer Enteignung der großen Ölkonzerne und Anklage des Managements. Nicht, dass ich denke dass die wirklich allein verantwortlich sind, bei so vielen Mitwissern... aber irgendwer wird halt der Sündenbock sein müssen.

 

 

lucan-7 antworten
Jack-Black
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Veröffentlicht von: @goodfruit

Aber diese bildlich aufgebaute Diskrepanz zwischen Luxus und guten Werken finde ich künstlich.

Ich verstehe nicht, was Du mit "künstlich" meinst. Es geht mir (bzw. P. Singer) um die wirklich systemisch relevante moralische Frage, ob wir die Pflicht haben, Menschen in Not zu helfen. Dein Anekdote mit dem Berber paßt da nicht wirklich, denn mit dem Kaffee hättest Du die Lebensgefahr, in welcher er (möglicherweise) schwebt, ja nicht behoben. Die bestand (möglicherweise) darin, dass er beim nächsten scharfen Nachtfrost erfriert, weil er eben keine Unterkunft hat.

Ob dem so ist, kannst Du nicht unbedingt wissen. Womöglich ging Deine Kaffee-Spende an den einzigen Berber in der Stadt, der's nicht wirklich nötig hatte. Beachte bitte auch, was Deine Beschreibung dessen, dass 1 Euro für Dich pro Woche so gut wie nichts ausmache, eigentlich bedeutet: Dein Beispiel geht am eigentlichen Kern des Problems somit vollständig vorbei, denn diese Kaffeespende bedeutete für Dich gar kein Opfer, es bräuchte an der Stelle nicht einmal darüber nachgedacht werden, ob das Opfer moralisch signifikant sei oder nicht. Dein Beispiel illustriert allerdings, wie wir alle (das schließt mich mit ein, verstehe meine Anmerkung also bitte nicht als auf Dich gemünzte persönliche Kritik!) regelmäßig mit diesem Problem umgehen: wir erkennen es nicht als relevant an. Uns kommt der nette Bettler aus der Nachbarschaft in den Sinn, dem wir auch schon mal was gegeben haben - und zwar, weil wir uns dabei womöglich ganz großartig fühlten, weil wir ihm etwas Gutes taten, zu dem wir uns nicht verpflichtet erachteten. Aber genau diese Grundeinstellung ist es, die P. Singer kritisiert und mit seinem Beweis (es geht um Logik an dieser Stelle!) als in sich widersprüchlich enttarnt.

Mildtätigkeit, das "Den-Armen-Geben" - ein Motiv, das sich ja durchaus in der Bibel findet, nur eben verkompliziert dadurch, dass irgendwie noch Gott da eine Rolle spiele - wird von uns als optional verstanden: aber es wird von uns nicht als optional verstanden, ein Kind vor dem Ertrinken zu retten. Letztlich ist es aber in der Konsequenz dasselbe, wenn wir, statt mit unserem Geld einem oder mehreren Kindern in Afrika, Südamerika oder Asien das blanke Überleben zu retten, uns ein paar schicke neue Turnschuhe oder sonst einen Luxus "gönnen", wie wenn wir wegen der schicken neuen Turnschuhe das Kind im Teich ertrinken lassen: unterlassene Hilfeleistung.

Mich erinnert das an die Kritik des Judas, dass das Öl, was die Frau, die es über Jesu Füße gießt, schlecht investiert sei und man es doch besser verkaufen und das Geld den Armen geben solle. Gibt es nicht genug Geld in Jerusalem, um die Armen zu unterstützen - warum soll es jetzt grade von diesem Öl passieren?

Ein interessantes Beispiel. Inwiefern liegt Judas da falsch? Der Verweis auf das andere "genügende" Geld ist ja typisch für alle, die eben nicht solidarisch sein wollen mit den Bedürftigen, weil ihnen weniger moralisch signifikante Angelegenheite wichtiger sind: sollen doch die anderen helfen!

In dem oben verlinkten Beitrag wird auf diese der Schuldabwehr dienende Argumentation wieder anhand des "Ertrinkendes Kind"-Beispiel eingegangen. Nehmen wir mal an, wir treffen Sandra, wie verabredet, chic aufgebrezelt, mit im Sonnenlicht glänzenden neuen Schuhen, im Café. Und sie erzählt uns: "Du, ich hab da gerade was echt heftiges mit angesehen. Ein Kind fiel in den Brunnen und drohte zu ertrinken, falls man es nicht herauszöge!"

Sagen wir dann: "Aha!", um danach auf ein anderes Thema zu wechseln? Nein, wir wollen wissen, wie die Sache ausging. Nun kann Sandras Geschichte zwei Wendungen haben. Eine, die befriedigend ist und nach deren Ende wir dann das Gesprächsthema wechseln können. Und eine, bei der wir wahrscheinlich Sandra ins Gesicht sagen werden, was wir von ihr halten, um danach aufzustehen und zu hoffen, sie nie wieder zu treffen.

Variante 1: "Und, was ist passiert? Hast Du das Kind gerettet?" - "Nein, andere waren vor mir beim Brunnen und retteten das Kind, jemand alarmierte sicherheithalber noch den Rettungsdienst für den Fall, dass der Schock oder schon geschlucktes Wasser für das Kind noch hätten gefährlich werden können."

Variante 2: "Und, was ist passiert? Hast Du das Kind gerettet?" - "Nein, ich hab das Kind nicht rausgezogen. Da standen ja noch genügend andere Leute herum, die hätten es ja rausziehen können." - "Wer hat es denn dann herausgezogen?" - "Niemand. Es ist ertrunken."

Entweder, wir sind moralisch dazu verpflichtet, das Kind zu retten. Dann wird diese Pflicht nicht dadurch aufgehoben, dass andere dieser Pflicht nicht nachkommen. Oder wir sind gar nicht dazu verpflichtet, das Kind zu retten. Wie oben aber ausführlich dargelegt, liefe dies darauf hinaus, dass wir moralische Monster sind und keinerlei Berechtigung mehr haben, von irgendwelchen Werten daherzuschwadronieren.

Judas hat also in der von Dir angeführten Bibelpassage, ganz egal, ob er irgendwelche hinterfotzigen Motive für seine Bemerkung hegt, in der Sache vollständig recht: Wenn man Menschen vor Krankheit und/oder dem Hungertod retten kann, indem man das teure Öl verkauft, bzw. eben in Lebensmittel eintauscht, dann sollte man dies tun, falls man von sich den Anspruch hat, moralisch gut zu handeln.

Zu sagen: "Es gibt doch genug Geld in Jerusalem, sollen doch die, die's haben, halt hergeben, ich will jetzt eine große Show draus machen, meinem Guru die Füße extra teuer zu pflegen!" ist auf demselben Level wie zu sagen: "Da stehen doch genug andere Leute, die das Kind retten könnten. Sollen die's halt tun, ich mag mir die Schuhe nicht ruinieren!"

jack-black antworten
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GoodFruit
(@goodfruit)
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@jack-black Dein Beispiel illustriert allerdings, wie wir alle (das schließt mich mit ein, verstehe meine Anmerkung also bitte nicht als auf Dich gemünzte persönliche Kritik!) regelmäßig mit diesem Problem umgehen: wir erkennen es nicht als relevant an. Uns kommt der nette Bettler aus der Nachbarschaft in den Sinn, dem wir auch schon mal was gegeben haben - und zwar, weil wir uns dabei womöglich ganz großartig fühlten, weil wir ihm etwas Gutes taten, zu dem wir uns nicht verpflichtet erachteten. 

Nun, Du scheinst Dich ja mit Berbern prächtig auszukennen. Ich habe mich schon mit welchen unterhalten - auch weil ich Unterkünfte kenne, wo sie die Nacht bleiben können und ich habe auch hier daran gedacht, ihm anzubieten, dass ich ihn dorthin fahre. Allerdings weiß ich aus Gesprächen mit ihnen, dass die fast unter keine Umstände in solche Unterkünfte wollen. Ich weiß nicht, ob das mit dem Beklaut werden dort wirklich so schlimm ist - auf jeden Fall wollen die das nicht.

Von daher dachte ich mir, dass ihn ein frisch gebrühter Kaffee besser wärmen würde als der Alk, den er sich grad reinzog. Ich denke, dass nach einer kalten Nacht so ein Kaffee für ihn eine Wohltat war - viel mehr jedenfalls, als wie so ein Kaffee für mich bedeutet hätte. Und von daher denke ich, dass ich meine 20 ct. mit dieser Aktion erheblich aufgewertet habe. Dies auszusagen -darum ging es mir.

Letztlich ist es aber in der Konsequenz dasselbe, wenn wir, statt mit unserem Geld einem oder mehreren Kindern in Afrika, Südamerika oder Asien das blanke Überleben zu retten, uns ein paar schicke neue Turnschuhe oder sonst einen Luxus "gönnen", wie wenn wir wegen der schicken neuen Turnschuhe das Kind im Teich ertrinken lassen: unterlassene Hilfeleistung.

Dieses Turnschuh-ertrinkende Kind Beispiel finde ich reichlich an den Haaren herbeigezogen - obwohl, so etwas gibt es. Aber dann geht es nicht um die Abwägung, ein materiell wertiges Gut für das Leben eines in Not geratenen Menschen einzusetzen, sondern um das sich-verantwortlich-fühlen, wenn ich eine Notlage sehe. Als Beispiel kann ich hier die Geschichte eines Fotografen nennen, die vor ein paar Jahren die Fotografencommunity erregte. Es ging dabei um einen in den USA lebenden berühmten Fotografen. Der war inzwischen ein alter Mann und außerhalb des Fotografenmilieus vermutlich kaum noch bekannt. Eines Tages ging der in die Stadt, um sich etwas zu kaufen. Er bekam da gesundheitliche Probleme, fiel um, krampfte - es war ein Kampf mit dem Tod. Um ihn herum viele Menschen, die auch dort waren. Die einzigen Menschen, die von ihm Notiz nahmen, zückten das Handy und filmten ihn. Es muss da tatsächlich Filme davon auf YouTube gegeben haben. Da war nicht einer, der sein Handy genutzt hätte, um einen Notarzt zu rufen oder selber praktisch zu helfen. Das Problem ist hier nicht Luxus gegen Leben, sondern diese Weltfremdheit und das nicht-Sehen des Nächsten, insbesondere, wenn der in einer schweren Notlage ist.

Ein interessantes Beispiel. Inwiefern liegt Judas da falsch? Der Verweis auf das andere "genügende" Geld ist ja typisch für alle, die eben nicht solidarisch sein wollen mit den Bedürftigen, weil ihnen weniger moralisch signifikante Angelegenheite wichtiger sind: sollen doch die anderen helfen!

Ich habe das Beispiel des Judas gebracht, weil ich diese Art der Argumentation auch woanders her kenne und auch der Herr Singer ist nicht weit davon entfernt. Das sind dann oft Bähmullen, die jeden Einsatz von Kapital, das auch für "gute Zwecke" eingesetzt werden könnte, schlecht reden. Der Frau ging es darum, Jesus zu ehren, ihm, der zum Retter aller Menschen, die ihn annehmen wollen, wurde, die Ehre zu erweisen, etwas Gutes zu tun. Da war sehr wahrscheinlich grad kein Verhungernder in der Nähe und Jesus verteidigt diese Frau ja auch mit dem Hinweis, dass es die Armen immer gäbe, ihn aber nur noch kurze Zeit leiblich auf Erden.

Und wenn ich da Menschen sehe, die sich mit Luxus umgeben, dann gehe ich sehr davon aus, dass es diesen Menschen trotz ihres Luxus noch möglich wäre, signifikant wohltätig zu spenden. Das Problem ist nicht der Umstand, dass der Luxus Kapital bindet, sondern der Umstand, dass diese Menschen so auf sich fokussiert sind, dass sie die Gesellschaft und grad auch die Notleidenden überhaupt nicht mehr wahrnehmen.

Und Du wirst das Problem nicht lösen, wenn Du Luxus verbietest, sondern nur, wenn Du die Herzen der Menschen erreichst, dass sie wieder zu Mitleid fähig werden. Und ich kenne da keinen besseren Weg, als wie diese Menschen mit dem Evangelium zu erreichen.

Entweder, wir sind moralisch dazu verpflichtet, das Kind zu retten. Dann wird diese Pflicht nicht dadurch aufgehoben, dass andere dieser Pflicht nicht nachkommen. Oder wir sind gar nicht dazu verpflichtet, das Kind zu retten. Wie oben aber ausführlich dargelegt, liefe dies darauf hinaus, dass wir moralische Monster sind und keinerlei Berechtigung mehr haben, von irgendwelchen Werten daherzuschwadronieren.

Ich sehe es als selbstverständlich an, dass ich helfe, wenn ich eine Notlage sehe. Wenn ich aber einen Ertrinkenden sehe und ich bin Nichtschwimmer - dann wirst Du Dich damit begnügen müssen, dass ich versuche Hilfe zu holen, anstatt dass ich mich auch noch selber umbringe, indem auch ich ins Wasser gehe. Eine Notlage, eine Krise, verlangt immer auch, dass man den Kopf nicht verliert, sondern rational bleibt und so versucht, mit den Mitteln, die man hat, das Beste daraus zu machen.

 

goodfruit antworten
Jack-Black
(@jack-black)
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@goodfruit Nun, Du scheinst Dich ja mit Berbern prächtig auszukennen.

 

Ich hab mal ein paar Monate mit/unter ihnen gelebt, aber das war mehr so das Sommerprojekt eines nach alternativen Lebensweisen suchenden Twens. Als es dann draussen kälter wurde, ich darüber hinaus genug abgenommen hatte und mir auch noch der Schlafsack gestohlen worden war, reichtes es mir und ich kehrte rechtzeitig zum Wintersemesterbeginn in mein privilegiertes Leben zurück Insofern: ja, ein bisserl kannte ich mich zumindest damals mit ihnen aus (über 30 Jahre her inzwischen). Hat aber eigentlich mit dem Thema nur indirekt was zu tun, nämlich insofern, als uns Obdachlose als erstes einfallen für Beispiele, bei denen wir schon mal geholfen haben - aber eben gemäß der Vorstellung, dass es sich dabei um supererogatorisches Verhalten gehandelt habe.

 

Dieses Turnschuh-ertrinkende Kind Beispiel finde ich reichlich an den Haaren herbeigezogen

 

Ich hab's eben, ein wenig umformuliert, aus dem verlinkten Vortrag übernommen. Warum es nicht an den Haaren herbeigezogen ist, habe ich m.A.n. schon allzu ausführlich dargelegt, wen eine noch ausführlichere (und vermutlich auch besser strukturierte) Erläuterung interessiert, der möge sich das Video anschauen.

 

Ich habe das Beispiel des Judas gebracht, weil ich diese Art der Argumentation auch woanders her kenne und auch der Herr Singer ist nicht weit davon entfernt. Das sind dann oft Bähmullen, die jeden Einsatz von Kapital, das auch für "gute Zwecke" eingesetzt werden könnte, schlecht reden.

 

Keine Ahnung, was Bähmullen sein sollen. Aber Singer sowas zu unterstellen, halte ich für unbegründet: es geht nicht um Kapitaleinsatz, sondern um Luxus-Konsum.

 

Der Frau ging es darum, Jesus zu ehren,

Ja, schon klar. Und Judas ging's darum, dass Armen mit dem Geld, das der Erlös so eines Luxus-Öls brächte, geholfen werden könne.

Die Struktur Deines Arguments lautet: XXX ist wichtiger, als Hungernden zu helfen und daher muss das Geld für XXX ausgegeben werden. Hier ist XXX die Ehrung Jesu, dort ist XXX das Einhalten eines Stelldichein-Termins, und woanders ist XXX das schöne Fest, das man den Freunden zur Unterhaltung bietet.

Das Argument wird stets vorgebracht und nur die Beispiele ändern sich je nach Weltsicht dessen, der es vorbringt.

 

Jesus verteidigt diese Frau ja auch mit dem Hinweis, dass es die Armen immer gäbe, ihn aber nur noch kurze Zeit leiblich auf Erden.

Es geht doch gar nicht darum, die Frau zu verteidigen. Es geht um die Antwort Richtung Judas. Jesus hätte auch das Öl, das die Frau bringt, dankend annehmen können und Judas anweisen, es zu verkaufen und mit dem Erlös dann die Armen zu speisen. Das hätte er vor der Frau tun können, und ihr erläutern, dass sie ihn, indem sie ihm ermöglicht, den Armen zu essen zu geben, viel mehr ehrt, als wenn sie ihm ein möglichst teures, aber letztlich dennoch rein symbolisches Geschenk macht, dass er als Gottessohn/Messias überhaupt nicht braucht.

Tut Jesus aber nicht. Und ich ahne, warum er's nicht tut. Weil es nicht in die Weltsicht derer paßt, die sich diese Geschichte ausgedacht und ihm die Worte in den Mund gelegt haben; weil es ihnen weniger darum zu tun ist, die Ethik Jesu zu transportieren, sondern darum, die Botschaft, dass es sich bei ihm um eine Königsfigur handele. Sie wollen Autorität verkünden, nicht Ethik.

Du wirst das Problem nicht lösen, wenn Du Luxus verbietest

Hab ich gar nicht vor. Wenn das Problem gelöst werden könnte, dann selbstverständlich nur indirekt - indem man halt für insgesamt bessere Verteilungsgerechtigkeit sorgt, wozu es eine Änderung der herrschenden Wirtschaftsstrukturen bräuchte. Dass diese allerdings geändert werden sollten - dazu müsste erstmal in einer Demokratie sich ein entsprechender Bewußtseinswandel durchsetzen hinsichtlich der Frage, welche moralischen Handlungs-Pflichten bestehen.

 

Wenn ich aber einen Ertrinkenden sehe und ich bin Nichtschwimmer - dann wirst Du Dich damit begnügen müssen, dass ich versuche Hilfe zu holen, anstatt dass ich mich auch noch selber umbringe, indem auch ich ins Wasser gehe.

Aber dieser Einwand wurde doch schon berücksichtigt!!! (Drei Ausrufezeichen, weil es echt frustrierend ist, sich ständig wiederholen zu müssen... 😉 ) Selbstverständlich brauchst Du Dich nicht in Gefahr zu bringen, um jemandem zu helfen. Opfer müssen nur soweit zur Rettung anderer gebracht werden, wie sie keinen moralisch signifikanten Wert haben. Und Dein eigenes Leben hat einen moralisch signifikanten Wert, also kann man Dich auch nicht (moralisch) verpflichten, es für andere zu riskieren.

jack-black antworten
Queequeg
(@queequeg)
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@jack-black 

"Jesus hätte auch das Öl, das die Frau bringt, dankend annehmen können und Judas anweisen, es zu verkaufen und mit dem Erlös dann die Armen zu speisen. Das hätte er vor der Frau tun können, und ihr erläutern, dass sie ihn, indem sie ihm ermöglicht, den Armen zu essen zu geben, viel mehr ehrt, als wenn sie ihm ein möglichst teures, aber letztlich dennoch rein symbolisches Geschenk macht, dass er als Gottessohn/Messias überhaupt nicht braucht."

Das ist wirklich gut.

"Tut Jesus aber nicht. Und ich ahne, warum er's nicht tut. Weil es nicht in die Weltsicht derer paßt, die sich diese Geschichte ausgedacht und ihm die Worte in den Mund gelegt haben; weil es ihnen weniger darum zu tun ist, die Ethik Jesu zu transportieren, sondern darum, die Botschaft, dass es sich bei ihm um eine Königsfigur handele. Sie wollen Autorität verkünden, nicht Ethik."

Das ist zwar nur eine Mutmaßung, aber ich halte sie für zutreffend.

queequeg antworten
GoodFruit
(@goodfruit)
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@jack-black Ich hab mal ein paar Monate mit/unter ihnen gelebt,

Das war bestimmt eine wichtige Erfahrung. Aber hast Du da nicht von ihnen gehört, dass sie nicht in Obdachlosenunterkünfte wollen? Ich habe ehrlich gesagt eher daran gedacht, ihm noch ne Decke zu bringen als wie ihn in der Obdachlosenunterkunft unterzubringen. Klar hätte ich fragen können - aber ich weiß einfach, dass diese Einrichtungen abgelehnt werden. Und mal ehrlich: meinst Du nicht, dass ein Kaffee am Morgen für ihn etwas Besseres gewesen wäre als ein Schluck aus der Pulle?

Die Struktur Deines Arguments lautet: XXX ist wichtiger, als Hungernden zu helfen und daher muss das Geld für XXX ausgegeben werden. Hier ist XXX die Ehrung Jesu, dort ist XXX das Einhalten eines Stelldichein-Termins, und woanders ist XXX das schöne Fest, das man den Freunden zur Unterhaltung bietet.

Das Argument wird stets vorgebracht und nur die Beispiele ändern sich je nach Weltsicht dessen, der es vorbringt.

Nun, zum einen ist es mal das Geld der Frau und es war das wohl ziemlich viel Geld - irgendwo habe ich mal gelesen, dass das in etwa den Kosten eines Kleinwagens entsprechen würde. Es war vermutlich alles, was die Frau hatte - das Scherflein der Witwe in groß. Sie tat es aus Dankbarkeit. Sie war von Dämonen befreit worden, Jesus hatte ihr ihr Leben zurückgegeben und jetzt wollte sie Jesus alles geben, was sie hatte. Es kann schon sein, dass das heilsgeschichtlich der Salbung zum König entsprach. Wenn das so dran war, dann war es gut, dass es passiert ist und ich finde es auch gut, dass es durch eine Frau passierte, die auch noch gesellschaftlich als absolut nieder betrachtet wurde. Die Seinen nahmen ihn nicht auf - aber die, die von der Gesellschaft als Abschaum betrachtet wurde und denen er zum Retter wurde, die gaben alles ... Wäre die Botschaft nicht eine andere, wenn Jesus ihren Einsatz abgelehnt hätte und ihr gesagt hätte: gib das mal den Armen! Solche Worte bekam der reiche Jüngling zu hören, aber nicht diese Frau, der es ein wichtiges Anliegen war, ihre Dankbarkeit auszudrücken.

Und was schätzt Du: wie viele Menschen hat der Heilige Geist seit jenen Tagen schon aus Notlagen rausgehauen ... Schlecht investiertes Kapital für den König der Könige?

Wenn das Problem gelöst werden könnte, dann selbstverständlich nur indirekt - indem man halt für insgesamt bessere Verteilungsgerechtigkeit sorgt, wozu es eine Änderung der herrschenden Wirtschaftsstrukturen bräuchte. Dass diese allerdings geändert werden sollten - dazu müsste erstmal in einer Demokratie sich ein entsprechender Bewußtseinswandel durchsetzen hinsichtlich der Frage, welche moralischen Handlungs-Pflichten bestehen.

Verstehe ich das richtig: Du möchtest also die Reichen nicht dazu bringen, etwas von ihrem Überfluss freiwillig abzugeben und sich so als moralisch verantwortungsvoll zu erweisen, sondern Du möchtest, dass ihnen der Staat das "zu viel" abnimmt, damit er es den Armen gibt? Das wäre für mich von der Moral her eine andere Situation und da passen Deine Beispiele dann auch überhaupt nicht mehr. Ich finde, dass durch Gesetze erzwungenes moralischen Handeln seine für moralische Dimension für den Einzelnen verliert. Es sind das dann ja keine freien Entscheidungen mehr, sondern alles, was man da noch moralisch einstufen kann, ist Steuerehrlichkeit. Der geistliche Wert des Almosens wäre futsch.

Ich glaube auch nicht, dass Luxus das Problem in der Frage der Armut ist. Wer Geld für Luxus hat, der hätte auch immer noch viel Geld, um soziale Projekte zu fördern (und vielleicht tut er das ja sogar!). Das nicht Sehen von Not halte ich aber für ein erhebliches Problem. Und ich meine, dass, wenn die Lebenshaltungskosten noch weiter steigen, es da auch einen Ausgleich für die Ärmeren in der Bevölkerung geben muss - und zwar nicht aus Privatinitiative heraus, sondern staatlich organisiert.

Idealerweise sorgt der Staat bar dafür, dass die Wirtschaft floriert und die Leute genug verdienen, um sich ihr Leben ohne Not leisten zu können.

goodfruit antworten
Jack-Black
(@jack-black)
Beigetreten : Vor 3 Jahren

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@goodfruit Aber hast Du da nicht von ihnen gehört, dass sie nicht in Obdachlosenunterkünfte wollen?

Ja klar doch! Wobei ich nun nicht weiß, inwieweit sich die Qualität dieser Quartiere seit damals verbessert oder sogar noch verschlimmert hat. Eigentlich hat ja jeder Berber seine ganz eigene Geschichte - unter ihnen sind viele, die psychisch krank sind und bei denen ich mir auch dreimal überlegen würde, mit ihnen im gleichen Zimmer zu schlafen.  Mein Schlafsack (und noch ein paar andere Sachen) wurde mir damals auch von einem "Kollegen" gestohlen (vermute ich jedenfalls) - das sind ja nicht alles vertrauenswürdige nette Menschen oder so. Mir ging es darum, dass das Beschenken oder Spenden für solche Menschen, die in Not leben, eigentlich eine Pflicht der Gesamtbevölkerung wäre und dass wir kollektiv dafür sorgen müßten, dass niemand auf der Straße (d.h. eben auch: den Viehställen, wie wir die Obdachlosenquartiere damals nannten - aber nochmal: den Winter hab ich nie auf der Straße verlebt, ich bin mir nicht sicher, wie meine Meinung zu den Ställen dann sich vielleicht gewandelt hätte) zu leben braucht.

Allerdings war der zweite Punkt, um den es mir ging: das Leid der Berber hier im reichen Deutschland ist immer noch weniger gravierend, als das Leid von Menschen, die z.B. als Kinder von im Krieg vergewaltigten Frauen geboren wurden und von da an nur Hunger, Krankheit, Gewalt usw. erlebt haben. Hinsichtlich der Berber kann man gegebenenfalls noch behaupten, sie wären selbst auch "irgendwie" für ihre Lage zumindest mitverantwortlich (was allerdings kein ausreichender Grund ist, sie z.B. im Winter vor Kälte oder an einer durch vergammelte Zähne verursachten Entzündung krepieren zu lassen). Es gibt genug Menschen auf der Welt, die Not leiden ohne dass es je in ihrer Möglichkeit gestanden hätte, das zu verhindern.

Wie auch immer - die Berber sind eben das "übliche" Beispiel, auf das so gut wie alle, mit denen man über diese Thematik redet, sofort kommen. Weil eben so gut wie jeder schon mal einem Berber was in den Pappbecher oder die Hand gedrückt hat. Wenn ich schätzen sollte, wird jeder fünfte bis zehnte von uns sogar über einen gewissen Zeitraum regelmäßig solche Nächstenhilfe geleistet haben. Aber eben in dem "falschen Bewußtsein", dass es sich dabei um eine supererogatorische Tat handele, obwohl dies eigentlich - gemessen an unseren Standards - nur pflichtgemäßes Handeln war.

Du möchtest also die Reichen nicht dazu bringen, etwas von ihrem Überfluss freiwillig abzugeben und sich so als moralisch verantwortungsvoll zu erweisen, sondern Du möchtest, dass ihnen der Staat das "zu viel" abnimmt, damit er es den Armen gibt?

Wie kommst Du auf "freiwillig" und das "zu viel"?

Darum geht es ja, dass wir eigentlich, also wenn wir als Gesamtgesellschaft (und damit ist die globale Menschheit gemeint) unseren eigenen moralischen Maßtstäben gemäß handeln würden, bestimmte Prinzipien einhalten und unsere Gesetze danach ausrichten müssten: die Steuerquoten so hoch ansetzen, dass mit den Steuermitteln das Existenzminimum (das gemäß der Bedürftigkeit, nicht gemäß irgendeines Durchschnittseinkommens zu berechnen wäre) aller Menschen (weltweit!) gewährleistet wäre. Wie genau man da die Steuerprogression ansetzt, müßten dann die Fachleute entscheiden. Dann hätte niemand zu viel, das man ihm/ihr abnehmen bräuchte. Es gäbe immer noch deutliche Reichtumgsunterschiede - aber eben nicht so krass wie heute, insbesondere nicht am unteren Ende.

Dabei geht es freilich um ein Ideal - ich mache mir und auch Euch nicht vor, dass ich glaube, dass es jemals hundertprozentig zu erreichen wäre. Aber man könnte eben entscheiden (und zwar per demokratischer Wahl), dass solche Regierungen an die Macht kommen, die in diese Richtung arbeiten.

 

Ich finde, dass durch Gesetze erzwungenes moralischen Handeln seine für moralische Dimension für den Einzelnen verliert.

Diese Dimension interessiert mich nicht sonderlich. Die interessiert auch die Mutter des Kindes, das gerade an ihrer vertrockneten Brust verhungert, nicht. Gesetze sind dazu da, die Moral, welche eine Gesellschaft für sich als verbindlich ausgehandelt hat, praktisch durchzusetzen. Die interessiert übrigens auch nicht das Opfer, das gerade von einem brutalen Schläger krankenhausreif geprügelt wird.

Daran, nach den hehren Motiven zu fragen, krankt die Ethik seit Jahrtausenden und daran krankt sie übrigens vor allem im christlichen Abendland. Wenn ich am Ertrinken bin, ist mir egal, aus welchen Motiven mir jemand den Rettungsring zuwirft - ob nun, weil ihm sein mitleidiges Herz das gebietet, oder weil er Angst hat, wegen unterlassener Hilfeleistung vor'm Kadi zu landen. Wichtig ist, dass er mir hilft.

Und das Ziel unserer - siehe Unterforum, wo ich diesen Thread eröffnet habe - Ethik ist es vernünftigerweise, zu gewährleisten, dass denen, die in blanker Not sind, regelmäßig geholfen wird und nicht nur, weil da gerade ein Held vorbeigeritten kommt, der mehr tut, als er müßte. Wie macht man das? Per sanktionsbewehrtem Gesetz.

 

jack-black antworten
Lucan-7
(@lucan-7)
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@jack-black 

Dabei geht es freilich um ein Ideal - ich mache mir und auch Euch nicht vor, dass ich glaube, dass es jemals hundertprozentig zu erreichen wäre. Aber man könnte eben entscheiden (und zwar per demokratischer Wahl), dass solche Regierungen an die Macht kommen, die in diese Richtung arbeiten.

Ich würde sagen, es geht zumindest in diese Richtung. Entwicklungshilfe, Sozialprogramme, Soforthilfen bei Katastrophen... klar, im Sinne der hier angesprochenen Grundsätze reicht das alles noch nicht. Aber es ist dennoch mehr als Nichts. Und wenn wir die Entwicklung innerhalb der letzten Generationen sieht, dann wird das möglicherweise auch noch mehr werden, trotz aller Rückschläge.

lucan-7 antworten
Jack-Black
(@jack-black)
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@lucan-7 Ich würde sagen, es geht zumindest in diese Richtung.

 

Ich hoffe wirklich sehr, Dein Optimismus wird bestätigt werden!

jack-black antworten
Lucan-7
(@lucan-7)
Beigetreten : Vor 13 Jahren

Beiträge : 21306

@jack-black 

Ich hoffe wirklich sehr, Dein Optimismus wird bestätigt werden!

Ich auch... aber wir werden es wohl nicht mehr erleben. Ich denke, dass das eine Sache von Generationen ist, und die Zeichen momentan stimmen mich weniger optimistisch.

Aber ich denke, dass es grundsätzlich dennoch eine Tendenz zum Besseren gibt, ganz allgemein - trotz mancher Rückschläge.

 

 

lucan-7 antworten


Lucan-7
Beiträge : 21306

@jack-black 

Wir verhalten uns täglich nicht nur schwach, sondern moralisch schlecht (aka böse). Das läßt sich als Fakt festhalten, übrigens ohne auch nur mit einem Wort irgendwelche göttlichen Vorgaben/Gebote/Definitionen/Ideale erwähnt zu haben.

Im Grunde zeigt Peter Singer hier nur mal wieder auf, dass unsere eigenen moralischen Maßstäbe untauglich sind, so lange wir sie zu 100% erfüllen wollen. In Wahrheit passen wir die Moral unseren Bedürfnissen an und suchen dann nach Rechtfertigungen dafür. Nur dass diese Rechtfertigungen am Ende nicht taugen.

Bekannt geworden ist Singer ja vor allem dadurch, dass er gezeigt hat, dass es keine sachliche Argumentation dafür gibt, weshalb ein Mensch wertvoller sein sollte als ein Tier. Jedes Argument das wir dafür aufwenden (Intelligenz, Empfindsamkeit, Vorstellungsvermögen etc...) ist letztlich untauglich, weil wir ja auch Babys oder behinderte Menschen, denen solche Eigenschaften fehlen, als "wertvoll" betrachten. Einfach deshalb, weil sie Menschen sind - nicht, weil wir dafür eine rationale Begründung hätten.

Und mit der Moral ist es letztlich das gleiche. Wir täuschen uns hier eine rationale Begründung vor, die wir aber niemals einhalten, sobald wir sie konsequent zu Ende denken.

Die interessante Frage, die sich mir hier stellt, lautet jetzt: Wie sähe denn eine "ehrliche Moral" aus? Lässt sich überhaupt ein "guter Mensch" definieren, der diesem Anspruch heute auch gerecht werden kann? Etwa, indem wir die Verantwortung für andere Menschen auf das unmittelbare Umfeld beschränken?

Globalisierung ist ja ohnehin ein neues Phänomen... denkt man die von dir genannte Definition und Verantwortlichkeit weiter, dann bedeutet das: Je globaler die Welt wird und je mehr wir von anderen Menschen in der Welt wissen - desto "böser" werden wir automatisch, weil wir dadurch ja von anderen Menschen und ihrem Elend erfahren, welches wir nicht abwenden.

Hinzu kommt: Würden denn die armen Menschen in Not, denen wir eigentlich zu helfen verpflichtet wären, das Gleiche auch für uns tun? Ich denke sie würden, wären sie in unserer Situation, schlicht das gleiche tun wie wir: Sie würden hier und da mal etwas spenden, um ein gutes Gewissen zu haben, und ansonsten sich auch ihrem Luxus hingeben und sich darüber freuen, wie gut es ihnen geht.

Auf dieser Basis, nämlich dass dem Menschen nun mal ein gewisser Egoismus zu eigen ist, liesse sich möglicherweise eine "ehrliche Moral" formulieren. Ob mir diese allerdings gefallen würde... das wage ich zu bezweifeln... 🤔 

 

 

lucan-7 antworten
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Lachmöwe
(@seidenlaubenvogel)
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Meine Weltsicht wird immer einfacher… Wir Menschen, die Welt, Gott - alles ist (natürlich nicht nur, aber eben auch) widersprüchlich. Dennoch/ trotzdem/ gerade deshalb lohnt es sich an dem Guten (so wie man es erkennt/ versteht) festzuhalten und es zu leben und das (eben nur und das ist ok) so gut man kann.

Im Gelingen und Scheitern wachsen wir. Überwindung (immer und immer wieder) ist für mich ein Schlüsselwort auf dem Weg der Heiligung. Leben scheint ein Dilemma zu bleiben, das wir oft genug (zum Glück?) nicht wahrnehmen.

Verzeihung, falls ich zu sehr vom Thema abgewichen bin.

 

Zurück zu einem Aspekt des Themas: Ich überlege tatsächlich (noch recht theoretisch), inwieweit ich mich aufgerufen fühle, woanders in einer Krise tatkräftig unterstützen zu können und wie sich dies als berufliches Netzwerk initiieren ließe. Nur mir ist auch bewusst, dass ich mich bereits hier vor Ort mehr einbringen könnte… Ich weiß auch, was mich hindert, sehe aber auch (und schätze), was ich im Kleinen „leiste“ und schaue darauf, dies auszubauen. Mir ist aber auch sehr bewusst, welche Grenzen ich habe. Und - es geht nicht darum, sich aufzuopfern und was das für wen bedeutet … - da kann nicht an jeden ein und derselbe Maßstab angelegt werden.

Spenden sehe ich übrigens nicht in seiner Alibi-Funktion, sondern als kleiner Baustein, um in die Arbeit anderer zu investieren, die ich nicht leisten kann. Und, ja - vielleicht beruhigt es auch mein Gewissen, vorrangig sehe ich damit den positiven Effekt, dass damit anderen geholfen wird.

seidenlaubenvogel antworten
Lucan-7
(@lucan-7)
Beigetreten : Vor 13 Jahren

Beiträge : 21306

@seidenlaubenvogel 

Meine Weltsicht wird immer einfacher… Wir Menschen, die Welt, Gott - alles ist (natürlich nicht nur, aber eben auch) widersprüchlich. Dennoch/ trotzdem/ gerade deshalb lohnt es sich an dem Guten (so wie man es erkennt/ versteht) festzuhalten und es zu leben und das (eben nur und das ist ok) so gut man kann.

Sehe ich ähnlich. Die Widersprüche wird es immer geben, trotzdem brauchen wir Ideale, nach denen wir streben - auch wenn wir sie nie erreichen können.

Für mich liegt darin auch die Erkenntnis, dass wir "Sünder" sind. "Sünder" bedeutet dabei für mich: Wir "sondern" uns vom Ideal, dem wir eigentlich folgen wollen, ab. Wir können die höchsten moralischen Ziele, für die "Gott" steht, nicht erreichen. Und deshalb brauchen wir Vergebung.

Wobei ich das jetzt rein philosophisch sehe, aber das ist so etwas mit dem ich auch im Alltag etwas anfangen kann.

lucan-7 antworten
Jack-Black
(@jack-black)
Beigetreten : Vor 3 Jahren

Beiträge : 3518

@seidenlaubenvogel Spenden sehe ich übrigens nicht in seiner Alibi-Funktion, sondern als kleiner Baustein, um in die Arbeit anderer zu investieren, die ich nicht leisten kann. Und, ja - vielleicht beruhigt es auch mein Gewissen, vorrangig sehe ich damit den positiven Effekt, dass damit anderen geholfen wird.

Der springende Punkt bei Singer ist, dass dieses Spenden sehr wohl und auch sehr effektiv hilft und dass es viel mehr auf diese Hilfe ankommt als auf das Motiv derer, die helfen. Statt Dir Gedanken darüber zu machen, selbst irgendwelche "beruflichen Netzwerke" zu initiieren, bei denen Du ja schon im Vorfeld Schwierigkeiten voraussiehst, kannst Du (wenn wir mal davon ausgehen, dass Du ein normaler Durchschnittsmensch bist) per Spende leichter, schneller und unter'm Strich vermutlich effektiver helfen. Es ist z.B. der Mutter eines im Sterben liegenden Kindes irgendwo im Kongo relativ egal, welche Motive diejenigen, die da den helfenden Arzt schicken, im Hinterkopf haben mögen: Hauptsache, das Kind überlebt.

Und wenn es überlebt, weil der Arzt mit Spendengeldern entlohnt wird, die Leute gegeben haben, um ihr Gewissen ein klein wenig zu entlasten - so what?! Es hat übelebt, darauf kommt es an. Für die Spender - solange sie "freiwillig" spenden, statt das Spenden als Pflicht zu begreifen - mag es subjektiv sehr wichtig sein, aus diesem oder jenem Motiv zu spenden. Die einen wollen vielleicht vor ihren Bekannten mit ihrer Generosität prahlen. Die anderen freuen sich darüber, wenn ihnen von der Hilfsorganisation alljährlich kurz vor Weihnachten ein Brief in den Kasten flattert, in welchem die glücklich lächelnden schwarzen Kinder abgebildet sind, in deren Namen sich die Organisation bedankt. Wieder andere haben den Ehrgeiz, möglichst wenig Einkommensteuer an den Staat abzugeben und spenden, um mit schön vielen Spendenquittungen das Finanzamt ärgern zu können. Und dann sind da auch noch diejenigen, die es eben im Sinne Singers als moralische Verpflichtung sehen, Menschen in Not zu helfen, und die also nur aus Pflichtbewußtsein spenden. - Egal, welches Motiv die Spender auch hegen mögen - den Euros oder Dollars, die auf das Konto des Arztes fließen, sieht man es nicht an.

Das "Alibi"-Argument kommt von der Seite, welche den Gedanken, dass es eigentlich unmoralisch sei, nicht zu spenden, schon gleich im Vorfeld verächtlich machen will. Von der Seite, die keinen Bock hat, sich Amoralität vorhalten zu lassen.

Von Zynikern also.

jack-black antworten
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@seidenlaubenvogel 

liebe seidenluabenvogel,

ich sehe es wie DU. Die Botschaft von Christus ist da ganz einfach. Siehe Bergpredigt.................

Und wir diskutieren ohne Ende, anstatt zu handeln.........Um abzulenken.......

Christus hat auf alles verzichtet......Reichtum, Wohlstand, Luxus......

Er verzichtete auf alle seine Herrschaftsrechte, und alle Privilegien, auf die Anbetung der Engel.

Damit gab Er auch mir ein Vorbild von Vertrauen und los lassen.......

Und doch, auch ich bin sehr bequem, könnte müsste mehr geben....

Mir geht es auch um meine Ehre......

Natürlich müssen wir aber achtsam und wachsam geben. In einer Zeit wo so viel gelogen und

betrogen wird. Die Botschaft von Christus ist einfach, aber Leben in unserer Zeit, sehr

kompliziert. 

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Lucan-7
(@lucan-7)
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@hundemann 

Christus hat auf alles verzichtet......Reichtum, Wohlstand, Luxus......

Auf die kostbare Salbe hat er nicht verzichtet...

 

lucan-7 antworten
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@lucan-7 ..damit hat Er uns ein Vorbild gegeben, sich dienen zu lassen, und zu dienen.

Selbst weiß ich, das ich mir nicht immer gerne dienen lasse. Wer bin ich denn------

Beim Abendmahl war kein Sklave da, um die Füße zu waschen. Und man kann als Mann

auch mit dreckigen Füßen leben.....Und warum sich herab lassen und Sklavenarbeit tun?

 

Christus zeigt mir, das man dienen kann, aber sich auch mal dienen lassen darf, ohne sich

zu schämen. 

ER, Christus, den sie bewunderten, wusch ihnen die Füße...

Sie waren wie auch ich manchmal, von ihrer eigenen Größe und Macht überzeugt, das

sie es für selbstverständlich hielten, von IHM bedient zu werden.

Christus hat den Jüngern und auch mir ein Beispiel gegeben. Nicht nur die Köpfe zu

waschen, sondern auch einmal die dreckigen Füße. Dienen und sich auch mal dienen lassen-.

So einfach, und doch so schwer......

 

liebe, leise Grüße,

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Lucan-7
(@lucan-7)
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@hundemann 

..damit hat Er uns ein Vorbild gegeben, sich dienen zu lassen, und zu dienen.

Es bestreitet ja keiner, dass es eine Bedeutung hatte.

Aber im Sinne dieses Threads lag die Priorität bei der Salbe nicht auf "Menschen in Not", sondern auf "viel Geld für symbolische Handlungen". Womit Jesus im Sinne der Aussage:

Wenn es in unserer Macht steht, ein sehr schlimmes (schlechtes) Ereignis zu verhindern, ohne dabei etwas von moralisch signifikantem Wert zu opfern, dann sind wir moralisch dazu verpflichtet, es zu tun.

in diesem Fall nicht "moralisch" gehandelt hat.

Natürlich ziehen Christen hier, wie Jack es unten schildert, die Autoritätskarte und sagen: "Jesus handelt moralisch richtig, weil er Jesus ist!"

Objektiv kann das aber kein Argument sein. Entweder Jesus handelt nach der Prämisse - oder er tut es nicht.

 

lucan-7 antworten
Deborah71
(@deborah71)
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@lucan-7 

Auf die kostbare Salbe hat er nicht verzichtet...

Was sagte er zu Judas bzgl des kostbaren Salböls?

Joh 12, 7 "Lass sie in Ruhe!", sagte Jesus. "Sie hat das als Vorbereitung für mein Begräbnis getan.

Es ging also um eine prophetische Zeichenhandlung und nicht um Luxusgenuss.

deborah71 antworten
Lucan-7
(@lucan-7)
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@deborah71 

Was sagte er zu Judas bzgl des kostbaren Salböls?

Joh 12, 7 "Lass sie in Ruhe!", sagte Jesus. "Sie hat das als Vorbereitung für mein Begräbnis getan.

Es ging also um eine prophetische Zeichenhandlung und nicht um Luxusgenuss.

Wofür braucht er Salböl für Tote, wenn er doch wieder aufersteht...?

 

 

lucan-7 antworten
Deborah71
(@deborah71)
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@lucan-7 

Er gab  an dieser Stelle einen Hinweis, dass er sterben  und wirklich tot sein würde.

Die zweite Salbung fand dann direkt nach der Kreuzigung statt:

Joh 19, 38 Danach bat Josef von Arimatäa Pilatus um die Erlaubnis, den Leichnam von Jesus bestatten zu dürfen. Josef war auch ein Jünger von Jesus, allerdings nur heimlich, weil er Angst vor den Juden hatte. Als er von Pilatus die Genehmigung erhielt, ging er hin und nahm den Körper vom Kreuz ab.
39 Auch Nikodemus, der Jesus einmal in der Nacht aufgesucht hatte, kam dazu. Er brachte eine Mischung von Myrrhe und Aloë mit, ungefähr 33 Kilogramm.
40 Sie wickelten den Leib unter Beigabe der wohlriechenden Öle in Leinenbinden, wie es der jüdischen Begräbnissitte entsprach.

Die dritte Bestätigung ist in diesem Text:

Mk 16,1 Am nächsten Abend, als der Sabbat vorüber war, kauften Maria aus Magdala, Salome und Maria, die Mutter von Jakobus, wohlriechende Öle, um zum Grab zu gehen und den Leichnam von Jesus zu salben.

Zu der Zeit wurde geglaubt, dass ein Mensch, wenn er drei Tage tot war, nicht wieder lebendig werden konnte. Man glaubte, dass der Geist des Menschen noch drei Tage um den Leichnam herum anwesend war.

Daher bezog sich Jesus auch auf das Zeichen des Jona: drei Tage und drei Nächte.

Ebenso kam er scheinbar verspätet zum Grab seines Freundes Lazarus, denn die Auferstehungskraft Gottes sollte erkennbar werden. (Eine der Schwestern hatte gesagt: Er ist schon vier Tage in der Gruft und stinkt schon).

 

Unsere Ostertagezählung ist nicht korrekt, denn es gibt drei verschiedene Pessachkalender: den der Sadduzäer, den der Pharisäer und den der Essener. Jeweils ein Tag Unterschied. Jesus feierte das Abendmahl in einem Essener Gasthaus (Hinweis: der Mann, der Wasser trug) und zwar am frühest möglichen Termin. So konnten die drei Tage und drei Nächte erfüllt werden.

deborah71 antworten
Lucan-7
(@lucan-7)
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@deborah71 

Unsere Ostertagezählung ist nicht korrekt, denn es gibt drei verschiedene Pessachkalender: den der Sadduzäer, den der Pharisäer und den der Essener.

Stimmt, das Thema hatten wir auch schon mal vor einer Weile... da hatte ich mich immer gewundert.

lucan-7 antworten
Deborah71
(@deborah71)
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@lucan-7 

Der Ostersonntag als erster Tag der hebräischen Woche stimmt, Fest der Erstlingsfrucht (Jesus, der Erstgeborene aus den Toten), aber Ostern an sich ist von Konstantin? auch verlegt worden.

Interessant ist da, dass sich die Feiertage mehrfach schon angenähert bzw. fast zur gleichen Zeit stattfindend angenähert haben.

deborah71 antworten
Jack-Black
(@jack-black)
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@lucan-7 Bekannt geworden ist Singer ja vor allem dadurch, dass er gezeigt hat, dass es keine sachliche Argumentation dafür gibt, weshalb ein Mensch wertvoller sein sollte als ein Tier.

Genau von dieser Diskussion her war er auch mir bisher vor allem bekannt, und darin vermutete ich ja auch den Hauptgrund, weswegen er gerade für viele apologetische Christen gleichsam eine Verkörperung des Bösen sei.

Der Aufsatz, auf den sich dieser Thread hier bezieht, stammt allerdings schon aus dem Jahr 1972 und unter dieser Perspektive sehe ich die Ablehnung Singers inzwischen anders: Man kapriziert sich bei der Kritik an Singer eben auf solche Themen, die eigentlich nichts "kosten", bzw. mit denen man leicht die Mehrheit auf seine Seite bekommen kann*. Ganz egal, ob Singer nun Recht hat mit seiner Argumentation, dass man auch bestimmten Tieren Rechte einräumen sollte, die bisher allein Menschen vorbehalten wurden: man hat nicht sonderlich viel zu verlieren, falls er die Diskussion gewinnt. Man kann aber, indem man die Aufmerksamkeit auf dieses Thema lenkt, sie gleichzeitig von dem viel grundlegenderen Problem der Verteilungsungerechtigkeit fortlenken. So wird Singer nicht als Sozialethiker, der eine gerechtere Verteilung von Reichtum philosophisch fundiert vertritt, sondern zum Befürworter von Eugenik, den man dann in eine Reihe mit den Nazis stellen kann. Der springende Punkt dabei ist, wie hier der übliche Umgang mit Autoritäten gehandhabt wird: nicht so sehr auf's Argument kommt es an, sondern auf den, der es vorbringt. Dieser Autoritätsfixiertheit wird Vorschub durch Religiosität geleistet, die ja die Anerkennung von Autorität als innersten Kern hat und die insbesondere behauptet, dass Moral von einer Autorität "gesetzt" werde (z.B. durch die zehn Gebote etc.).

Deutlich wurde mir dieser Zusammenhang jetzt nochmal durch das Bibelstellenbeispiel mit Judas, welches Goodfruit weiter oben brachte. Goodfruit brachte es, um damit anzudeuten, dass die von P.Singer als richtig propagierte Haltung ja auch schon von Judas propagiert wurde. Das vor dem Hintergrund, dass Judas ja die Schurkenfigur in der Bibel spielt, also das, was er von sich gibt, gar nicht wahr und richtig sein kann, sondern stets verdächtig sein muß. Weil: Judas! Indem Jesus sich die Füße mit dem teuren Öl salben läßt, wird diese Handlung nach dem Autoritätsprinzip zu einer guten, richtigen, legitimen Handlung.

Interessanterweise habe ich jetzt, wo ich nachgeschaut habe, keinen Hinweis darauf gefunden, dass es namentlich Judas gewesen sei, der diese Position vertrat. Statt von Judas ist hier  von den Jüngern die Rede. In der Erinnerung von Goodfruit wurde aus den Jüngern hier Judas, weil der eben der einzige der Jünger ist, mit dem sich Christen üblicherweise nicht identifizieren mögen. Insofern ist Goodfruits Projektion (von den Jüngern auf Judas) sinngemäß treffend, als in der Bibelstelle die Jünger eine Contra-Position zu Jesus vertreten: auch das korrekt nach Matthäus zitierte Narrativ lautet unter'm Strich: andere Werte sind wichtiger als der Wert, Menschen in Not beizustehen. In diesem Fall ist es ein Wert, der sich kaum konkret formulieren läßt, der aber, wenn man eine Kondensierung versucht, allein auf die Ehrung Jesu Christi (Christos=der Gesalbte) hinausläuft. Diese Bibelstellt behauptet also, kritisch gelesen, Folgendes: Die Not der Menschen ist hinzunehmen, falls dadurch Gott geehrt wird. Das ist die Moral von der Geschicht. Und weil sie von Jesus gesetzt wurde, darf sie nicht infrage gestellt werden, obwohl sie eigentlich der (im Ertrinkendes-Kind-Szenario exemplifizierten) Moral, die wir für richtig halten, widerspricht.

 

Die interessante Frage, die sich mir hier stellt, lautet jetzt: Wie sähe denn eine "ehrliche Moral" aus? Lässt sich überhaupt ein "guter Mensch" definieren, der diesem Anspruch heute auch gerecht werden kann?

Ja, auf so eine Frage stößt man unausweichlich, sobald man mal den Gedanken Singers hat sacken lassen. Aber dann sehe ich zerst einmal die Aufgabe darin, diese Frage "beantwortbar" zu formulieren. Was z.B. soll das überhaupt sein, eine "ehrliche Moral"? Die Moral besteht ja aus Konzepten und ist keine Person, welche sich ehrlich oder unehrlich verhalten könnte. Eigentlich wäre als hier schon mal eine bessere Formulierung: "Wie sähe eine widerspruchsfreie Moral aus"?** Daran anschließen ließe sich dann die Frage: "Wie sähe eine widerspruchsfreie Moral aus, deren Richtlinien in der Praxis auch einhaltbar wären?"

Etwa, indem wir die Verantwortung für andere Menschen auf das unmittelbare Umfeld beschränken?

Diesen Aspekt der Relation von Verantwortung und Nähe hat natürlich auch schon P.Singer gesehen und er fällt einem selbst auch recht schnell ein, wenn man versucht, Einwände zu finden gegen die sich aus dem Argument ergebende rigorose Schlußfolgerung, auf allen Luxus verzichten zu sollen, um Not und Leid anderer zu verhindern. Die ernüchternde Antwort ist, dass wir in einer globalisierten Welt eigentlich nicht mehr sinnvoll zwischen unmittelbarem und mittelbarem Umfeld differenzieren können. Dieser Ausweg nach dem Motto: "Die sind soweit weg, dass ich ihnen ja praktisch gar nicht helfen kann!" ist verbaut durch die Existenz von Hilfsorganisationen. Jeder von uns hat einen Bankschalter in seinem unmittelbaren Umfeld, von wo aus er problemlos soviel Geld an diese Hilfsorganisationen überweisen kann, wie er will. Und jeder von uns (und damit meine ich eben uns Bürger des kapitalistischen Westens) kann angesichts der wirtschaftlichen globalen Interdependenzen nicht redlich behaupten, das, was auf der anderen Seite des Globus geschehe, gehe ihn nichts an. Wir wären nicht so reich, wie wir's sind ohne genau diese globalen Verflechtungen - und da braucht gar nicht erst die Hinweise auf Imperialismus, Kolonialismus und Ausbeutung zu bemühen: unser Wohlstand beruht darauf, dass ein "unmittelbares Umfeld" ökonomisch betrachtet gar nicht mehr sinnvoll gedacht werden kann.

Eigentlich ist die Frage, wie eine widerspruchsfreie Moral aussähe, durch Singers Argument schon beantwortet: Sie sähe so aus, dass wir das Anstreben von Verteilungsgerechtigkeit, deren Primat darin besteht, dass kein Mensch gesundheits- oder lebensgefährdende Not zu leiden braucht, zur obersten moralischen Richtlinie erhöben, der alle anderen moralischen Setzungen, insbesondere das Recht auf Eigentum, unterzuordnen sind.

Da braucht man also gar nicht mehr sonderlich viel Gehirnschmalz aufzuwenden. Die Frage, die schwieriger zu beantworten sein dürfte: wie wird so eine Moral durchgesetzt?! Denn es ist ja klar, dass es da gewaltige Widerstände geben wird bei allen, denen im Vollzug so einer Moral abverlangt wird, etwas von dem, was sie besitzen, herzugeben. Und da kommen wir dann eben zum Macht-Aspekt und zu der Frage, wer mit wem sich solidarisch zeigt.

 

 

* Ich meine da eine ähnliche Diskurs-Strategie zu erkennen, wie wir sie z.B. bei der religiös-konservativen (eigentlich: reaktionär dominionistischen) Bewegung in den USA finden, die irgendwann in den 70er/80ern auf den Trichter kam, dass sich mit Rassismus kein politischer Blumentopf mehr gewinnen lasse und die daher auf das Abtreibungs-Thema auswich, mit dem sich leichter und mit "besseren Bildern" für die eigene Sache werben läßt. (Vergl. hierzu Annika Brockschmidt: "Amerikas Gotteskrieger")

**Ehrlichkeit ist allerdings, so könnte man Deine Frage ja auch verstehen, auch da von Belang, wo wir überhaupt über "Moral" reden. Wir sollten dabei immer bedenken, dass am Anfang jeglichen Gedankens, der sich mit ethischen oder eben moralischen Fragen beschäftigt, die faktische Existenz von Interessen steht. Diesen Umstand zu ignorieren und so zu tun, als gäbe es erst die moralische Regel und dann die Anwendungsfälle, auf welche sie sich beziehen kann, kann nur zu Fehlschlüssen führen. Objektiv geht es im Ertrinkendes-Kind-Szenario auch erstmal um Interessen, die zueinander im Widerspruch stehen: das Interesse des Kindes, weiterzuleben und das Interesse von Sandra, ihre Schuhe sauber zu halten und ein schönes Date zu erleben. Beide Interessen sind objektiv vorhanden und insofern stellt sich erst gar nicht die Frage nach ihrer Legitimität. Es wäre also unsinnig zu behaupten, Sandra habe kein moralisches Recht, sich um die Unbeflecktheit ihrer Schuhe zu sorgen. Allein die Frage, wie signifikant (bedeutend) dieses Recht sei, gilt es zu entscheiden.

Das erscheint trivial, aber interessanterweise finden wir kaum eine moralische Debatte, in welcher nicht mindestens eine, meist sogar beide Parteien versuchen, so zu tun, als verträten sie keine Eigeninteressen, sondern argumentierten allein im Sinne des "Allgemeininteresses".

jack-black antworten
Lucan-7
(@lucan-7)
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@jack-black 

Aber dann sehe ich zerst einmal die Aufgabe darin, diese Frage "beantwortbar" zu formulieren. Was z.B. soll das überhaupt sein, eine "ehrliche Moral"? Die Moral besteht ja aus Konzepten und ist keine Person, welche sich ehrlich oder unehrlich verhalten könnte. Eigentlich wäre als hier schon mal eine bessere Formulierung: "Wie sähe eine widerspruchsfreie Moral aus"?

"Widerspruchsfrei" ist die hier genannte Moral doch... sie wird halt nur nicht eingehalten. Trotzdem bilden wir uns ein, dass sie gültig sei und wir uns auch daran halten.

Die Frage wäre, ob wir eine Moral formulieren können, mit der wir uns gleichzeitig wohlfühlen und an die wir uns auch halten können. Und ich behaupte mal, dass beides zusammen nicht möglich ist.

Diesen Aspekt der Relation von Verantwortung und Nähe hat natürlich auch schon P.Singer gesehen und er fällt einem selbst auch recht schnell ein, wenn man versucht, Einwände zu finden gegen die sich aus dem Argument ergebende rigorose Schlußfolgerung, auf allen Luxus verzichten zu sollen, um Not und Leid anderer zu verhindern. Die ernüchternde Antwort ist, dass wir in einer globalisierten Welt eigentlich nicht mehr sinnvoll zwischen unmittelbarem und mittelbarem Umfeld differenzieren können.

Nationalisten haben da wenig Probleme mit die Verantwortung nur auf das eigene Land zu beschränken. Möglicherweise sind sie in dieser Beziehung auch "ehrlicher"...

 

 

lucan-7 antworten
Jack-Black
(@jack-black)
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@lucan-7 "Widerspruchsfrei" ist die hier genannte Moral doch... sie wird halt nur nicht eingehalten.

Diejenige, die P. Singer propagiert, ja. Aber nicht diejenige, welche er kritisiert (die, nach welcher keine moralische Pflicht besteht, unbenötigte Mittel aufzuwenden, um schlimme Übel dadurch zu verhindern, sondern dies Spenden, und somit supererogatische Handlungen seien). Jene ist eine Moral, nach welcher das Recht auf Eigentum höher bewertet wird als das Recht auf Gesundheit und Leben, die aber gleichzeitig das Konzept der unterlassenen Hilfeleistung hat und ihm gemäß Sanktionierungen vorsieht. Darin besteht der Widerspruch: Sanktionen für ein Verhalten vorzusehen, das praktisch fast jedermann täglich an den Tag legt - aber nur in bestimmten Einzelfällen diese Sanktionen auch zu verhängen. Darin besteht der Widerspruch - oder, so hatte ich Dich zumindest verstanden, die Unehrlichkeit.

Die Frage wäre, ob wir eine Moral formulieren können, mit der wir uns gleichzeitig wohlfühlen und an die wir uns auch halten können. Und ich behaupte mal, dass beides zusammen nicht möglich ist.

Das ist eine steile Behauptung, für deren Begründung ich mich interessieren würde. Sie läuft ja scharf entlang der Kante, die das argumentum ad ignorantiam, das sich auf Unkenntnis berufenden Argument, bildet: der Hinweis darauf, dass so eine Moral Dir oder uns unbekannt sei, ist keine ausreichende Begründung Deiner Behauptung.

Dagegen läßt sich anführen, dass Deine Behauptung sehr praktisch für all jene ist, die es prinzipiell ablehnen, ihr Verhalten entlang moralischer Regeln und Gesetze auszurichten. Und diese Position ist zumeist die Position der Mächtigen, für die solche Regeln ja einfach nur lästig sind. Dass also Deine schwach (bzw. erstmal noch gar nicht) begründete Behauptung der einen Partei in einem Interessenskonflikt so grandios in die Karten spielt, macht sie zusätzlich verdächtig.

Stellen wir uns einfach einen Hamburger Millionär vor und einen Dürreflüchtling in Äthiopien. Würde sich an das Prinzip gehalten, dass Geld nicht in Luxus investiert werden darf, solange damit tödlicher Hunger und Krankheit vermieden werden können - dann fiele die Frage, ob man sich mit einer derartigen Moral wohlfühle, vermutlich so aus, dass der Dürreflüchtling laut: "Ja, unbedingt!" rufen wird, der Hamburger Millionär dagen genervt abwinkt: "Och nee, dann müßte ich ja den schon bestellten Drittwagen stornieren und meinen Zweitwagen verkaufen, obwohl der so eine schöne Sonderlackierung hat!"

So ungefähr fielen die Antworten aufgrund der heute herrschenden Verhältnisse aus.

Allerdings: wie wäre es, wenn wir mal den status quo nicht zur Grundlage nähmen, sondern den Millionär fragten: "Ziehst Du eine Welt vor, in welcher Du auf Luxus verzichten mußt, dafür aber vor Übergriffen ziemlich sicher bist, weil der Staat das Gewaltmonopol inne hat und kontrolliert - oder ziehst Du eine Welt vor, in der Du Deinen Luxus so weit genießen kannst, wie Du ihn gewaltsam gegen jeden, der ihn Dir wegzunehmen droht, verteidigen kannst, weil eben der Gesellschaftsvertrag nicht mehr gilt, sondern das Faustrecht des Stärkeren herrscht?" Ich wette, der Hamburger Millionär, der ja vermutlich nicht unbedingt doof und ungebildet ist, käme hier in's Grübeln, insbesondere, falls sein Reichtum auf Lieferketten basiert, die an jeder zweiten Straßenecke unterbrochen zu werden drohten, falls Räuber nicht mehr befürchten müssen, von der Polizei geschnappt zu werden.

Der Wohlfühlfaktor ist ein relativer und hängt ausschließlich an der subjektiven Perspektive. Ganz gewiß würden sich einige, die sich heute in der ungerechten (ich spreche hier immer von Verteilungsgerechtigkeit) Gesellschaft sauwohl fühlen, in einer gerechteren Welt nicht ganz so wohl fühlen. Aber diejenigen, die heute aufgrund der ungerechten Verhältnisse krank und hungrig einem frühen Tod entgegensiechen, würden sich unvergleichlich viel wohler fühlen.

 

Nationalisten haben da wenig Probleme mit die Verantwortung nur auf das eigene Land zu beschränken. Möglicherweise sind sie in dieser Beziehung auch "ehrlicher".

Ja, es ist die Ehrlichkeit derer, die Moral nur als Instument, dessen man sich bei Bedarf bedienen, das man aber ansonsten ebensogut auch in den Wind schießen kann, verstehen. Diese Art Ehrlichkeit teilen sie mit allen, die gleichzeitig mächtig und rücksichtslos sind.

 

jack-black antworten
Lucan-7
(@lucan-7)
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@jack-black 

Das ist eine steile Behauptung, für deren Begründung ich mich interessieren würde. Sie läuft ja scharf entlang der Kante, die das argumentum ad ignorantiam, das sich auf Unkenntnis berufenden Argument, bildet: der Hinweis darauf, dass so eine Moral Dir oder uns unbekannt sei, ist keine ausreichende Begründung Deiner Behauptung.

Gut, dann mal etwas ausführlicher. Meine Behauptung ist, dass es keine Moral für uns gibt, an die wir uns halten können und mit der wir uns gleichzeitig "wohlfühlen". Am schwammigsten ist hier natürlich der Begriff "wohlfühlen" - ein zynischer Egoist mag sich jederzeit wohlfühlen, egal wie es anderen Leuten geht. Würde man auf dieser Basis eine "Moral" formulieren wäre das wohl jederzeit wiederspruchsfrei möglich.

Aber ich gehe hier mal von der Ausgangsprämisse und deinen Beispielen aus: Menschen, die in Lebensgefahr sind, muss jederzeit geholfen werden, weil das Leben höchste Priorität hat.

Nun hattest du das Beispiel der Dame mit den schönen neuen Schuhen, die an einem Teich vorbei geht und dort ein ertrinkendes Kind sieht. Jeder würde hier sofort sagen: Das Kind zu retten ist wichtiger als die neuen Schuhe, völlig egal, ob die ruiniert werden. Klar soweit.

Das Beispiel ist anschaulich um zu vermitteln, was du meinst - entspricht aber nicht der Realität. Denn es ist ja nicht ein einziges Kind, das da ertrinkt... es sind hunderte, tausende... eine unüberschaubare Anzahl hilfebedürftiger Menschen, denen unmittelbar der Tod droht.

Die Frau müsste also nicht nur einmal ins Wasser steigen, sondern immer wieder. Sie zieht ein Kind nach dem anderen aus dem Wasser, nur um schon wieder Hilferufe zu hören und wieder zurück zu gehen. Ihre Verabredung könnte sie da vergessen, sie käme zu nichts Anderem mehr als ununterbrochen Kinder aus dem Wasser zu ziehen.

Und da stellt sich die Frage: Wann genau darf die Frau eigentlich aufhören, wenn sie die Prämisse erfüllen will? 

Kann sie sich ans Ufer setzen und sagen: "Jetzt reicht es erst mal!", während da immer noch Kinder ertrinken? Kann sie sich zwischendurch ein Eis gönnen, während in der Zeit drei, vier, fünf Kinder sterben, die sie hätte retten können?

Nein, kann sie natürlich nicht - denn nach der Prämisse sind die Kinder wichtiger als das Eis. Das heisst also, dass sie, um Prämisse 1 erfüllen zu können, bis zum umfallen arbeiten muss... so lange, bis sie physisch nicht mehr dazu in der Lage ist, noch einmal ins Wasser zu gehen. Ist sie dann am Ufer zusammengebrochen wäre sie dann gezwungen, ihre Kräfte zu sammeln, möglichst effektiv gerade so viel Nahrung zu sich zu nehmen, dass sie wieder ins Wasser gehen kann... um dann endlos weiter Kinder zu retten, immer wieder, bis zu ihrem Tod.

Von "Wohlfühlen" kann hier also keine Rede sein. Allerdings lautet die Prämisse ja:

Prämisse 1: Wenn es in unserer Macht steht, ein sehr schlimmes (schlechtes) Ereignis zu verhindern, ohne dabei etwas von moralisch signifikantem Wert zu opfern, dann sind wir moralisch dazu verpflichtet, es zu tun.

Bei "moralisch signifikantem Wert", der nicht geopfert zu werden braucht, haben wir hier in gewisser Weise einen Joker. Denn natürlich hat das Leben der Frau auch einen Wert, niemand erwartet realistischerweise, dass sie ihr Leben völlig bis zum Letzten aufopfert. Nur: Dann sterben halt Kinder.

Wir gönnen es der Frau, sich einmal kurz hinzusetzen, sich auszuruhen, ein Eis zu essen... auch wenn in dieser Zeit Kinder sterben. Schliesslich hat sie ja schon viel getan. Und keinesfalls würden wir von ihr erwarten, dass sie den Rest ihres Lebens dort am Teich verbringt und mit ihren letzten verbliebenen Kräften Kinder herauszieht.

Denn: Das Leben der Frau hat auch einen "moralisch signifikanten Wert", der hier natürlich in die Waagschale geworfen werden kann.

Aber wie genau wird dieser Wert bemessen? Wievielen toten Kindern entspricht dieser Wert?

Sind zwei tote Kinder in Ordnung, damit wir morgens unseren Kaffee trinken können? Die Kinder sterben, weil sich die Arbeiter auf der Kaffeeplantage keine gute medizinische Versorgung leisten können. Bei ein paar toten Kindern kann man noch sagen: "So ist halt das Leben!".

Sterben die Leute aber zu hunderten würde uns aber auch irgendwann das Gewissen plagen. Aber eben erst dann. Wenn wir nun aber den moralischen Anspruch haben, dass auch die zwei gestorbenen Kinder eigentlich nicht hätten sterben dürfen - dann kommen wir hier in den Widerspruch, auf den das hier ja hinaus läuft.

Nun habe ich gesagt, dass eine Moral, an die wir uns halten können und mit der wir uns "wohlfühlen" nicht möglich ist. Denn wir nehmen hin, dass Leute sterben, obwohl es unseren Idealen widerspricht.

Die Frau am Teich müsste ehrlicherweise sagen: "Es ist in Ordnung, dass ich einige Kinder sterben lasse, schliesslich will ich auch was vom Leben haben!". Das wird sie aber nicht tun. Stattdessen wird sie die Konsequenzen ihres Handelns verdrängen.

Dagegen läßt sich anführen, dass Deine Behauptung sehr praktisch für all jene ist, die es prinzipiell ablehnen, ihr Verhalten entlang moralischer Regeln und Gesetze auszurichten.

Das passiert ja längst. Da sagen sich manche Leute, dass es in dieser Welt schlicht darum geht, der "Wolf" unter den ganzen Schafen zu sein... jeder denkt eh nur an sich, warum sich also Gedanken um Andere machen?

Am Ende will aber wohl kaum jemand in so einer Welt leben, in der alle Menschen so denken. Es geht also um einen Kompromiss zwischen totalem Egoismus und totaler Aufopferung.

Wie man den aber formulieren soll - im Sinne von: "Wieviele tote Menschen sind OK?" - das ist mir schleierhaft. Ich halte es auch nicht für möglich - das war ja meine Ausgangsthese.

 

 

lucan-7 antworten
Jack-Black
(@jack-black)
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@lucan-7 Jetzt verstehe ich Dein Argument besser. Allerdings denke ich, dass es nicht genau genug zwischen Analogie und eigentlichem Gegenstand unterscheidet. Wir müssen vielleicht noch mal definieren, was wir als "Moral" verstehen. Ich würde darunter ein Set von Verhaltensregeln verstehen, auf das sich eine Gemeinschaft geeinigt hat. Ausdruck einer solchen Moral sind dann Gesetze, wie z.B. dasjenige, das Sanktionen für unterlassene Hilfeleistung regelt oder eben auch Wirtschaftsgesetze, die den statthaften Umgang mit Eigentum regeln.

In der herrschenden Moral drücken sich die "Werte" aus, auf die sich eine Gesellschaft geeinigt hat.

Das Ertrinkendes-Kind-Szenario ist eben dies: ein Szenario, in welchem sich Werte untersuchen lassen, auf die sich eine Gesellschaft geeinigt hat. Wie jede Analogie stößt auch dieses Szenario an Grenzen, insbesondere, wenn man sie unrealistisch verabsolutiert, wie Du es hier tust, indem du die Zahl der sich in's Wasser werfenden Kinder in's schier Unendliche erhöhst und dabei ausser acht läßt, dass der Vielzahl derer, die in der Realität von Hunger, Krankheit und Tod bedroht sind, eine Vielzahl derer gegenübersteht, die helfen könnten: Du darfst nicht allein nur das Kind in der Analogie mit X multiplizieren, sondern mußt der Ehrlichkeit halber auch die Sandras mit X multiplizieren. Würden sich diese Sandras gemäß den (angeblich) allgemein anerkannten Werten verhalten, würden alle Kinder gerettet und dann stünden halt alle Sandras mit nassen Schuhen da - die ihnen niemand ersetzt, weil man nun mal dafür, dass man einfach nur seine Pflicht erfüllt, nicht belohnt werden braucht. Sie wären aber nicht totmüde und ausgelaugt.

Das Leben der Frau hat auch einen "moralisch signifikanten Wert", der hier natürlich in die Waagschale geworfen werden kann.

Genau, richtig. Deswegen ist ja auch Deine Übertreibung des Szenarios unpassend. Die Frau hat ja entsprechend des herrschenden Konsens (!) nur dann die Pflicht, das Kind zu retten, wenn sie damit ihr Leben, ihre Gesundheit, auch ihre Ernährungssicherheit nicht auf's Spiel setzt. Wenn sie sich selbst in Gefahr dafür begibt, dann handelt es sich um eine supererogatorische (ich muss mich selbst noch an dieses für mich neue Fremdwort gewöhnen, oben hab ich vermutlich statt dessen supererogativ geschrieben) Handlung, also eine, zu der sie nicht verpflichtet ist, die sie aber üblicherweise als Heldin erscheinen läßt.

Die Übertragung auf die Welt sieht nun so aus, dass den vielen Millionen hungernden und siechenden Menschen, deren Leben zu retten wäre, auch viele Millionen von Menschen gegenüberstehen, die "nur" auf einen Teil ihrer Luxusausgaben zu verzichten bräuchten. Es ist ja anerkannte Tatsache, dass die Ressourcen auf der Welt für alle Menschen zu einem Leben ohne Hunger und gefährliche Armut (in dem Sinne, dass man gegen Krankheitsrisiken etc. völlig ungeschützt ist) reichen würden, dass also tatsächlich nur eine gerechtere Verteilung der Ressourcen dieses schlimme Leid von Millionen beenden könnte.

Freilich: je weniger Menschen sich an das, was eigentlich moralischer Konsens ist, halten, desto mehr müssen dann diejenigen leisten, die sich ihm gemäß verhalten. Nehmen wir mal an, dass jeder von uns eigentlich nur zwanzig Prozent seiner Luxusausgaben statt dessen denen zufließen ließe, die von Hunger und Krankheit bedroht sind und so gerettet werden können - dann wäre das vermutlich ein Preis, den wir (also Du und ich und all die guten Leute... 😉 ) gern dafür bezahlen würden, dass die Welt ein wesentlich besserer Platz wird.

Wenn aber nur jeder Fünfte sich gemäß dem (eigentlichen) moralischen Konsens verhielte, müßten wir guten Leute 100 Prozent unserer finanziellen Mittel, die über das hinausgehen, was wir zum Selbsterhalt notwendig brauchen, hergeben. Damit würden wir immer noch nicht uns selbst in Gefahr bringen, aber es würde uns vermutlich irgendwann doch frustrieren. Aber nota bene: das läge daran, dass sich die Mehrheit nicht entsprechend der skizzierten Moral verhielte, womit sie offenkundig nicht mehr die herrschende Moral wäre.

Darauf läuft ja in der Praxis die Argumentation P. Singers hinaus: Dass wir uns mehrheitlich nicht gemäß der Moral verhalten, von der wir uns einreden, dass sie Geltung habe.

Darin besteht unsere Verlogenheit: dass wir unsere sanktionsbewehrten Gesetze nicht so gestaltet haben, dass die Moral, deren Anspruch wir wie eine Monstranz vor uns hertragen, auch durchgesetzt bekommen. Dieser moralische Selbstanspruch ließe sich durchsetzen, indem man die Gesetzeslage verändert, indem man also Eigentumsrechte beschneidet und Solidaritätspflichten stärkt per Sanktionsandrohung bei Verstoß.

Es ist ja nicht so, dass nicht in der Vergangenheit (und auch in der Gegenwart) nicht immer wieder versucht worden wäre, diesen Prozess in die Wege zu leiten. Ein Beispiel, das mir in diesem Zusammenhang einfällt, wäre die Steuerpolitik Schwedens, die früher mal Einkommen so hoch besteuerte, dass besonders viel Verdienende in manchen Jahren über 100 Prozent Einkommenssteuer zahlen mußten, es also in manchen Fällen absurd wurde. Da ging es freilich noch nicht unbedingt darum, den Hungernden und Kranken in Übersee zu helfen, aber es ging um das zentrale Problem der Verteilungsgerechtigkeit. Noch heute sind die Steuerquoten in den skandinavischen Ländern ungewöhnlich hoch - was nicht unbedingt dazu führt, dass es den Leuten dort insgesamt schlechter ginge in Relation zu Ländern, in welchen Einkommensbesteuerung als eine Art diabolisches Zeug verstanden wird und wo mit Austreibungsriten, bei denen der Teufel mit lautem "Sozialismus! Sozialismus!! Sozialismus!!!"-Rufen benannt wird, Wahlkämpfe gewonnen werden können.

 

Da sagen sich manche Leute, dass es in dieser Welt schlicht darum geht, der "Wolf" unter den ganzen Schafen zu sein... jeder denkt eh nur an sich, warum sich also Gedanken um Andere machen?

Ja, das ist halt auch eine Moral: die des unreglementierten Kapitalismus. Das hier verwendete Bild (Wolf und Schafe) suggeriert ja dann sogar noch, dass es sich bei diesen kapitalistischen Verhältnissen gleichsam um vom Naturrecht bestimmte Verhältnisse handele: Die Großen fressen halt die Kleinen, so isses und damit isses auch gut und richtig.

Aber damit wird eben der Gewaltherrschaft das Recht geredet. Das geht für die Wölfe solange gut, bis sich die Schafe mal darauf verständigen, gemeinsam vorzugehen und zu revoltieren: dann zeigt sich, wie falsch so eine Naturrecht-Analogie im Kern ist, die von angeborenen Unterschieden bei den Menschen ausgeht, die nicht wirklich vorhanden sind.

jack-black antworten
Lucan-7
(@lucan-7)
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@jack-black 

Wie jede Analogie stößt auch dieses Szenario an Grenzen, insbesondere, wenn man sie unrealistisch verabsolutiert, wie Du es hier tust, indem du die Zahl der sich in's Wasser werfenden Kinder in's schier Unendliche erhöhst und dabei ausser acht läßt, dass der Vielzahl derer, die in der Realität von Hunger, Krankheit und Tod bedroht sind, eine Vielzahl derer gegenübersteht, die helfen könnten: Du darfst nicht allein nur das Kind in der Analogie mit X multiplizieren, sondern mußt der Ehrlichkeit halber auch die Sandras mit X multiplizieren.

Das ist allerdings ein zusätzlicher Aspekt, der in den ursprünglichen Prämissen nicht vorkommt. Da steht nur: "Menschliches Leben hat oberste Priorität". Und nicht: "Jede Person braucht nur eine Anzahl von Personen zu retten, die ihr rechnerisch zusteht." Denn dafür müsste man dann eine Formel angeben, wie genau sich dieser Anteil an zu rettenden Personen berechnet.

So gesehen war meine Analogie nicht falsch: Die Frau muss so lange Leben retten, wie es Menschen gibt, die gerettet werden müssen. Und nicht: "Da stehen 50 Leute um den Teich herum... ich rette also ein Fünfzigstel der Kinder, damit habe ich dann meinen Anteil geleistet!"

Denn beziehen wir die anderen Menschen in unsere Rechnung mit ein, dann betrifft das natürlich auch solche, die unmittelbar Schuld daran tragen, dass überhaupt andere Menschen in Not geraten. Uns als Konsumenten billiger Produkte trifft ja lediglich eine Teilschuld.

Darauf läuft ja in der Praxis die Argumentation P. Singers hinaus: Dass wir uns mehrheitlich nicht gemäß der Moral verhalten, von der wir uns einreden, dass sie Geltung habe.

Unter Einbeziehung aller gieriger und korrupter Menschen ist diese Feststellung nicht allzu schwer... Singer ging es aber doch wohl speziell um solche Menschen, die "gut" sein wollen. Und es dennoch nicht sind.

Wenn du jetzt aber die "guten Menschen" durch das Verhalten der "schlechten Menschen" quasi entschuldigst - dann kommen wir zu einem völlig anderen Szenario.

 

lucan-7 antworten
Jack-Black
(@jack-black)
Beigetreten : Vor 3 Jahren

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@lucan-7 Da steht nur: "Menschliches Leben hat oberste Priorität".

 

Nein, das steht da nicht, vielleicht magst Du nochmal nachlesen. 😉

Da steht, dass dort zu helfen sei, wo nicht moralisch signifikante Werte geopfert werden müssen. Und zu denen zählt eben auch die Gesundheit derer, welchen die Pflicht zu helfen obliegt. Singer sagt nicht: Gebt her und helft, bis ihr selbst dadurch in Gefahr geratet! (Dazu, einem Ertrinkenden zu helfen, wenn man sich selbst damit in Gefahr zu bringen droht, sind wir ja auch nicht verpflichtet.)

Allerdings - und ja, das macht diese Kröte so schwer zu schlucken - sind wir eigentlich (wenn wir unsere eigenen Werte ernst nehmen wollen) dazu verpflichtet, all das, was wir für Luxus ausgeben, herauszurücken, bis keine Gefahr mehr für andere besteht, zu verhungern oder durch (leicht zu therapierende) Krankheit zu sterben. In der Praxis sähe es so aus, dass wir vermutlich unseren Wohlstand (also unsere Luxusausgaben, die über den Selbsterhalt hinaus gehen)  zu einem überwiegenden (!) Teil dazu aufwenden müßten, anderen zu helfen. Kurz: dass wir auf sämtliche "Annehmlichkeiten" zu verzichten hätten. Was keiner von uns Reichen will.

Ich diskutieren dieses Thema auch abseits des Forums in den letzten Tagen mit sehr vielen Leuten. Und alle haben dieselben (bzw. sich sehr stark ähnelnde) Einwände, die sich im Prinzip so zusammenfassen lassen: "Darauf hab ich keinen Bock!" Und diese Einwände kommen halt von Leuten in meinem Umfeld: die samt und sonders zu den Profiteuren der herrschenden Verhältnisse zählen.

Statt dessen kommen dann Formulierungen wie: "Ich gebe ja zu, dass mir da die Leute in Afrika am Arsch vorbeigehen, aber ich sehe nicht ein, dass ich auf XYZ verzichten soll, denn allen kann man ja eh nicht helfen!"

Diese - wie oben bewiesen - unmoralische, bzw. asoziale Einstellung ist bei uns derart weit verbreitet, bzw. die Norm, dass niemand ernsthaft befürchtet, aufgrund solcher Aussagen beispielsweise gesellschaftlich geschnitten zu werden. Wo doch gilt: wer unter uns ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein... 😉

 

Singer ging es aber doch wohl speziell um solche Menschen, die "gut" sein wollen. Und es dennoch nicht sind.

Nein. Es ging ihm (meiner Vermutung nach, wir könnten ihn ja nochmal persönlich fragen 😉 ) darum, die Einsicht in bestimmte Zusammenhänge zu fördern, unseren "moralischen Kompaß" auf seine korrekte Eichung hin zu überprüfen. Und in der Konsequenz ist sein Anliegen höchstwahrscheinlich ein gesellschaftspolitisches: Regeln (also in der Praxis: sanktionsbewehrte Gesetze) zu finden, wie strukturell mehr von unserem "Wohlstand", also dem, was wir reichen Gesellschaften übrig haben, bei denen ankommt, die es zum Überleben notwendig brauchen. Und zwar soviel mehr, bis keine regelhafte (d.h. durch die herrschenden Machtverhältnisse und die aus ihnen resultierende ungerechte Verteilung verursachte) Not mehr existiert.

 

Wenn du jetzt aber die "guten Menschen" durch das Verhalten der "schlechten Menschen" quasi entschuldigst - dann kommen wir zu einem völlig anderen Szenario.

Das verstehe ich nicht - wo hätte ich das getan? Ich kann in diesem Zusammenhang auch mit dem Schuldbegriff nicht sonderlich viel anfangen, weil ich nur vage ahne, was Du mit "entschuldigen" meinst.

Dass ich die Frage hier in einem Religionsforum thematisiere und auch noch eine (verfälschte) Bibelpassage voranstellte, welche auf die individuelle "Sündhaftigkeit" der Menschen anspielt, lädt, wie ich zugebe, zu dem Mißverständnis ein, ich (oder Singer) würde die Leute dazu auffordern wollen, mehr (am besten: allen Luxus) zu spenden. Kurz: als wollte ich Euch anderen Usern hier predigen, wie es die Kirchen ja seit geschlagenen zweitausend Jahren tun (und zwar nicht sonderlich erfolgreich in dieser Hinsicht).

Eigentlich aber geht es darum, wie wir unsere (Welt)-Gesellschaft organisieren wollen: nach welchen Prinzipien? Wenn das Prinzip gelten würde, dass wir erst dann uns Luxus erlauben, wenn unsere Nächsten (also der Rest der Menschheit) keine existentielle Not mehr leiden - dann wäre damit ja nicht der Luxus "verboten", sondern ihm würde nur in Konfliktfällen prinzipiell keine Priorität mehr eingeräumt. Darum geht es: Dass wir uns über unsere Prioritäten klar werden und dann, wenn wir die mal festgelegt haben, auch bei allen Einzelentscheidungen beachten. Man darf da gerade nicht auf der individuellen Ebene verharren und sich lang und breit und bis ans Ende aller Tage ergebnislos darüber den Kopf zerbrechen, was denn ein guter Mensch sei. Sondern man muß die Sache politisch sehen: wie haben unsere Gesetze auszusehen, damit sich die Verhältnisse im Sinne der von uns festgelegten Prioritäten entwickeln?

Und wenn wir sagen: "Zuerst sollte Menschen in Not geholfen werden!",  dann kann es nicht sein, dass wir solche Zahlen akzeptieren, ohne Sturm zu laufen, während Politiker sich bei den Wählern profilieren können, indem sie sich dafür einsetzen, dass 2% des BIP für Militärausgaben das Minimalziel darstelle, auf das dann "Zeitenwende"-Zusatzpakete im Hundertmilliarden-Umfang noch oben drauf kommen sollen.

Oder wir sagen eben: unsere nationalen Interessen sind uns wichtiger als die Menschenrechte.

Wenn wir das so sagen und also uns nicht verpflichtet sehen, Menschen, die das Pech haben, jenseits unserer Grenzen zu wohnen, vor dem (vermeidbaren) Tod zu retten - okay! Können wir so machen.

Aber dann brauchen wir weder einem Putin, noch einem Xi oder sonstwem mit unserem Anspruch, die Menschenrechte hätten universale Gültigkeit, zu kommen. Wenn wir in unserem nationalegoistischen Interesse Menschen sterben lassen dürfen - warum sollten das andere nicht ebenfalls dürfen?

jack-black antworten
Lucan-7
(@lucan-7)
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@jack-black 

Da steht, dass dort zu helfen sei, wo nicht moralisch signifikante Werte geopfert werden müssen.

Korrekt. Und ich hatte ja schon geschrieben, dass dieser Begriff eine Art "Joker" ist... man kann alles mögliche dafür einsetzen, um schliesslich irgendwie auf eine bestimmte Moralvorstellung zu kommen.

Ich bemühe nochmal die Dame, die ununterbrochen Kinder aus dem Wasser fischt: Die Frau ist sportlich und bei bester Gesundheit. Sie hat ein gutes Körpergespür, sie weiss also wieviel Nahrung sie braucht und achtet auch darauf, sich nach Möglichkeit nicht selbst zu gefährden. Es kostet sie - rein körperlich gesehen - keine große Mühe, all die Kinder zu retten. Sie verzichtet lediglich auf alles, was sie als "Luxus" betrachtet.

Also nicht nur auf ihre eleganten Schuhe, die sie natürlich gar nicht erst gekauft hat, sondern auch auf ihre Verabredung. Sie leistet sich keine Hobbys, geht nicht ins Kino, kauft nur das billigste Essen usw.... und ihr Geld verdient sie schnell und effektiv, um die ganze restliche Zeit dem Retten von Kindern zu widmen.

Ist es das, was Singer gemeint hat? Ohne mich jetzt noch viel tiefer damit befasst zu haben würde ich mal sagen: Nein, hat er wohl nicht. Es geht ihm nicht darum, sein eigenes Leben völlig aufzugeben - es geht um "überflüssigen Luxus".

Nur: Was soll das genau sein? Wo fängt "überflüssiger Luxus" an?

Ich selber habe ein paar Hobbys, für die ich Geld ausgebe. Ich zeichne, ich mache in bescheidenem Umfang Musik, ich gehe ab und zu ins Kino, ich mache manchmal etwas Modellbau, kaufe Bücher und ähnliches.

Von keiner dieser Tätigkeiten könnte man wohl ernsthaft behaupten, sie sei wichtiger als ein Menschenleben. Gemäß der Vorgabe müsste ich demnach auf all dies verzichten. Entspannen dürfte ich mich dann nur mit "moralisch signifikanten Dingen", also Dinge, die ich unmittelbar benötige. Statt zeichnen oder Bücher zu lesen müsste ich mich dann etwa mit langen Spaziergängen bescheiden.

Das verstehe ich nicht - wo hätte ich das getan? Ich kann in diesem Zusammenhang auch mit dem Schuldbegriff nicht sonderlich viel anfangen, weil ich nur vage ahne, was Du mit "entschuldigen" meinst.

Nun, du hattest ins Spiel gebracht, dass es ja auch noch andere Menschen gibt, die moralisch gesehen ebenfalls Verantwortung übernehmen müssten. Ich muss also nicht allein die Welt retten, es geht um die Gesellschaft, die einen Teil ihres Reichtums abgeben sollte.

Aber wie du selbst schon bemerkt hast: Was ist denn, wenn die Gesellschaft das nicht einsieht und weiter ihrem überflüssigen Luxus fröhnt? Dann läge es an den wenigen "Guten", die ganze Last quasi allein zu stemmen.

Wobei wir natürlich auch sagen können: Wir berechnen das Ganze anteilig. Wir rechnen also aus, was jeder Einzelne tun müsste, um nach Möglichkeit jeden Menschen zu retten den man halt mit finanzieller Zuwendung retten kann. Und ich müsste dann lediglich meinen "Anteil" spenden und wäre nicht dafür verantwortlich, dass andere Leute das nicht tun. Das ist es, was ich mit "entschuldigen" meinte.

Beachtet man dann allerdings noch, dass die Hälfte des weltweiten Vermögens in der Hand von nur 1% der Bevölkerung liegt... dann liegt die komplette Verantwortung ausschliesslich bei denen (zu denen ich leider nicht gehöre). Würden diese Leute ihr Vermögen abgeben, hätten alle Menschen auf der Welt schlagartig doppelt so viel Geld (!), wie sie jetzt besitzen.

Und dann müssten wir eigentlich gar nichts mehr tun...

 

 

 

lucan-7 antworten
Lucan-7
(@lucan-7)
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Beiträge : 21306

Kleine Ergänzung: Würden das reichste 1% der Weltbevölkerung ihr Vermögen auf alle Menschen der Welt verteilen, dann würde jeder einzelne Mensch auf der Welt ca. 25.000 Euro bekommen.

Klar, das ist kein Geld das man einfach abheben und verteilen kann, weil es da um verschiedenste Vermögenswerte geht... aber es zeigt recht anschaulich die Verhältnisse.

lucan-7 antworten
Jack-Black
(@jack-black)
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@lucan-7 Und ich hatte ja schon geschrieben, dass dieser Begriff eine Art "Joker" ist... man kann alles mögliche dafür einsetzen.

Nein, eigentlich nicht. Es sollte eigentlich jedem, der sich über den Tatbestand der "unterlassenen Hilfeleistung" mal Gedanken gemacht hat, ziemlich leicht erkennbar sein, dass "moralisch signifikante Werte, die nicht geopfert werden müssen" letztlich genau solche Werte sind, zu deren Erhalt man bei anderen verpflichtet ist. Von niemandem wird verlangt, dass er/sie sich in Gefahr bringt, um andere zu retten. Weil das eigene Leben, die eigene Gesundheit des potentiellen Retters eben solche moralisch signifikanten Werte sind.

jack-black antworten
Lucan-7
(@lucan-7)
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Beiträge : 21306

@jack-black 

Es sollte eigentlich jedem, der sich über den Tatbestand der "unterlassenen Hilfeleistung" mal Gedanken gemacht hat, ziemlich leicht erkennbar sein, dass "moralisch signifikante Werte, die nicht geopfert werden müssen" letztlich genau solche Werte sind, zu deren Erhalt man bei anderen verpflichtet ist. Von niemandem wird verlangt, dass er/sie sich in Gefahr bringt, um andere zu retten. Weil das eigene Leben, die eigene Gesundheit des potentiellen Retters eben solche moralisch signifikanten Werte sind.

Ich habe doch geschrieben, dass sich die Frau nicht selbst in Gefahr bringt. Sie gibt halt nur alles auf, was irgendwie als "Luxus" interpretiert werden könnte.

Und da ist die Grenze völlig unklar.

 

 

lucan-7 antworten
Gelöschtes Profil
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@jack-black Statt von Judas ist hier  von den Jüngern die Rede. In der Erinnerung von Goodfruit wurde aus den Jüngern hier Judas

Dein Zitat bezieht sich auf Matthäus... Es ist aber Johannes (12,6) auf den sich Goddfruits Aussage bezieht, womit Dein Rückschluss auf "falsche Erinnerung" nicht greifen sollte (samt Erklärung warum dies so sei)

Damit dürfte die "Motivation" warum eine Verschwendung stattfinden darf (ja sollte) stärker in den Fokus genommen werden dürfen...

in diesem Sinne

 

hg poimen

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Jack-Black
(@jack-black)
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@poimen-a Ah, danke für diesen korrigierenden Hinweis! Es handelt sich aber in beiden Geschichten um dasselbe Ereignis, richtig?

Dann nehme ich die "falsche Erinnerung" gegenüber Goodfruit gerne wieder zurück. Was ich ihm fälschlicherweise unterstelle, kann ich nun Johannes (dessen Evangelium ja erst nach dem Matthäusevangelium entstand) ankreiden: schon er projeziert unbewußt oder sogar (das hatte ich aber Goodfruit nicht unterstellen wollen!) vorsätzlich eine als negativ zu zeichnende Position von "den Jüngern" auf "den Judas". An der grundsätzlichen Problematik ändert sich dabei nichts. Aber es ist mir sehr viel lieber, dass Goodfruit selbst nicht für diese Projektion verantwortlich ist, denn somit kann man das Argument verallgemeinern und es hängt nicht an dem schwachen Haken, den ein individueller Erinnerungsfehler bedeutet.

Statt dessen darf man vermuten, dass Johannes die Formulierung der Szene bei Matthäus kannte und die Änderung aufgrund von Vorsatz vornahm. (Freilich könnte hier eingewendet werden, dass Judas ohnehin derjenige unter den Jüngern war, der für die Geldverwaltung zuständig zeichnete (falls ich das richtig erinnere) und also die Änderung weniger dazu diente, eine Position als falsch zu zeichnen, indem man sie Judas allein zuschreib, sondern vielmehr der Vereinheitlichung des Gesamtnarrativs: dass es dramaturgisch eher Sinn ergibt, wenn nicht gleich alle Jünger, sondern nur einer die Bemerkung über das Verkaufen des Öls macht und dieser eine halt der ist, der für die finanziellen Angelegenheiten zuständig ist.

jack-black antworten
Gelöschtes Profil
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@jack-black Es handelt sich aber in beiden Geschichten um dasselbe Ereignis, richtig?

Davon gehe ich aus.

schon er projeziert unbewußt oder sogar (das hatte ich aber Goodfruit nicht unterstellen wollen!) vorsätzlich eine als negativ zu zeichnende Position von "den Jüngern" auf "den Judas". An der grundsätzlichen Problematik ändert sich dabei nichts.

Das wiederum sehe ich anders:

Das Salbölproblem zeigt auf, dass es bei der "Verschwendung" nicht auf den (objektiv) materiellen, sondern auf den (subjektiven) ideellen "Wert" der Handlung ankommt.

Moral sollte somit keinem "normativen" Charakter entsprechen, sondern entspringt einem "inneren Wert"...

Dieser Aspekt wird mMn. in dem erwähnten Bericht beleuchtet/behandelt.

 

hg poimen

 

 

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Jack-Black
(@jack-black)
Beigetreten : Vor 3 Jahren

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@poimen-a Das wiederum sehe ich anders:

Das Salbölproblem zeigt auf, dass es bei der "Verschwendung" nicht auf den (objektiv) materiellen, sondern auf den (subjektiven) ideellen "Wert" der Handlung ankommt.

Es zeigt, dass die höchste Priorität nicht darin liegt, Menschen in Not zu helfen. Das, was Du da als den subjektiven oder ideellen Wert bezeichnest, ist das, was im hier thematisierten Gesamtzusammenhang der Luxus ist: der ideelle Wert, den es hat, sich eine elegante Hose zu kaufen, was ja ein Ausdruck von ästhetischem Empfinden ist. Der ideelle Wert, den ein repräsentables Haus darstellt, das die Wichtigkeit seines Bewohners herausstreichen soll. Diese ideellen Werte sind denen, die sich den Luxus leisten, stets lieb und teuer (wertvoll). Während eben in der Nebenstraße ein Kind mit Hungerödemen verreckt.

Du siehst es anders, weil für Dich eben wichtiger zu sein scheint, dass Jesus wie ein König (Salbung) geehrt wird, als dass Hungernden zu essen gegeben wird. So, wie es halt anderen wichtiger war, dass ihr König auf einem goldenen Thron zu sitzen habe etc..

Es geht ja gar nicht darum, dass es unmoralisch sei, einem ideellen Wert (Luxus) zu huldigen - sei es einem Religionsführer oder beispielsweise der Kunst (ich mag Museen und schöne Jazz- oder Sinfoniekonzerte und gebe da für Tickets öfter mal ein paar Euro aus). Aber es geht um die Priorisierung: und da hätte Judas - falls zu gelten hat, dass Luxusausgaben erst dann moralisch "in Ordnung" seien, wenn nicht mehr die Nächsten von Hunger, Krankheit und Tod bedroht sind - eben richtig gelegen und Jesus falsch.

Nun könnte eingewendet werden, dass die Ehrung Jesu als Sohn Gottes (oder Gott selbst) eine Ausnahme bedeute, da alles, was zu Ehren Gottes geschehe, per definition gut sei, insbesondere wenn Jesus selbst dies so behaupte.

Aber setze für Jesus mal Bhaal ein und Du erkennst, wo das Problem solcher ideologisch begründeten Ausnahmen hinsichtlich menschlicher Moral liegt...

jack-black antworten
Gelöschtes Profil
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@jack-black Aber es geht um die Priorisierung: und da hätte Judas - falls zu gelten hat, dass Luxusausgaben erst dann moralisch "in Ordnung" seien, wenn nicht mehr die Nächsten von Hunger, Krankheit und Tod bedroht sind - eben richtig gelegen und Jesus falsch.

Das scheint nur so (im verkürzten Ausschnitt Jesu Lehre und Vorbild):

Es geht nicht um den "Luxus" (, dem zu huldigen wäre), sondern um den "Umgang" (mit unserem Nächsten) also um die "Gewichtung"!

DENN - das eine ist die Theorie ("man muss den Armen helfen" - was Jesus nicht verneint) - das andere die Praxis ("sie hat ein gutes Werk an mir getan"); die Motivation des Handelnden ist also entscheidend... nicht die Handlung an sich!

Nun könnte eingewendet werden, dass die Ehrung Jesu als Sohn Gottes (oder Gott selbst) eine Ausnahme bedeute, da alles, was zu Ehren Gottes geschehe, per definition gut sei, insbesondere wenn Jesus selbst dies so behaupte.

Aber setze für Jesus mal Bhaal ein und Du erkennst, wo das Problem solcher ideologisch begründeten Ausnahmen hinsichtlich menschlicher Moral liegt...

Baal verfolgt ein völlig anderes Konzept (und scheint mir auch deswegen ungeeignet)

Aber lies mal Jakobus 2,14ff oder Römer 14 > ich halte es für zu umfangreich die Zitate hier einzustellen - aber für den Moralbegriff haben sie unbedingt Bedeutung !

Es geht da nicht um "Luxus vs. Moral" sondern um "Umgang mit dem Gegenüber"

Das halte ich für wesentlich zielführender...

 

hg poimen

 

 

 

 

 

W

 

 

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Jack-Black
(@jack-black)
Beigetreten : Vor 3 Jahren

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@poimen-a Das scheint nur so (im verkürzten Ausschnitt Jesu Lehre und Vorbild): (...)

die Motivation des Handelnden ist also entscheidend... nicht die Handlung an sich!

Das mag ja Jesu Lehre sein (oder die Lehre jener, die sich auf Jesus berufen und ihn dies in dieser Passage sagen lassen), aber im Eingangsposting und überhaupt hier im Thread geht es nicht um Jesu Lehre, sondern um die Moral, der wir selbst uns verpflichtet fühlen, bzw. von der wir anderen und womöglich auch uns selbst vormachen, dass wir uns ihr verpflichtet fühlen würden. Die Motivation des Handelnden ist nämlich für jene, die z.B. vor Leid und Tod gerettet werden, völlig sekundär. Wichtig ist, dass sie gerettet werden.

das eine ist die Theorie ("man muss den Armen helfen" - was Jesus nicht verneint) - das andere die Praxis ("sie hat ein gutes Werk an mir getan")

Aha, da klaffen also Theorie (Anspruch) und Praxis offenkundig auseinander. Entweder, man muss den Armen helfen (dann ist es Verschwendung, teures Öl zum Füße einreiben, ohne dass z.B. eine medizinische Indikation dazu vorläge, zu vergeuden) oder man muss eben nicht, sondern die Armenhilfe ist eben kein Muss, sondern nur etwas, das man gern mal tun kann, wenn nicht gerade Wichtigeres anliegt. Beispielsweise einem Guru auf kostspielige Weise Ehrerbietung zeigen. Oder bei einem Date sauber, hübsch und pünktlich zu erscheinen: Ein gutes Werk hat ja auch Sandra getan, oder meinst Du, die Person, die sie da trifft, freut sich nicht drüber?

jack-black antworten
Arcangel
Beiträge : 4340

@jack-black 

Ich denke, da hast du etwas gut analysiert.

Einige Anmerkungen, über die ich aber gerne diskutieren will, die ich hier aber nur mal in Einzeilern präsentiere.

1. Spenden, wenn es sich nicht um Notfälle wie Naturkatastrophen handelt, ist reines Symptombekämpfung.

2. Reichtum ist immer eine Umverteilung und/oder Ausbeutung von Gütern, dies hat bereits Adam Smith in The Wealth of Nations 1776 festgestellt.

3. Gerechtigkeit ist nicht gleichbedeutend mit Egalitärität.

4. Wohlstand und Reichtum sind nicht dasselbe.
4a. Wohlstand für alle muss das Ziel einer gerechten Welt sein.
4b. Wohlstand bedeutet ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit, mit allen notwendigen für ein gesundes und soziales Leben.
4c. Wohlstand für alle bedeutet nicht, dass alle alles haben. 

5. Reichtum, der darauf beruht, dass andere, ihres Wohlstandes beraubt werden (aka Ausbeutung), ist moralisch verwerflich.

6. Den eigenen Wohlstand aufzugeben, um den Wohlstand anderer zu ermöglichen, ist kein moralischer Imperativ.

7. Den eigenen Reichtum aufzugeben, wenn dieser auf der Ausbeutung anderer beruht, um den Wohlstand anderer zu ermöglichen, ist indes ein moralischer Imperativ.

 

 

 

 

 

 

arcangel antworten
3 Antworten
Jack-Black
(@jack-black)
Beigetreten : Vor 3 Jahren

Beiträge : 3518

@arcangel Danke, dass Du hier in gleich mehreren Posting mitdiskutierst. Ich werde aus Zeitgründen aber nicht überall antworten, sondern erstmal nur hier:

1. Spenden, wenn es sich nicht um Notfälle wie Naturkatastrophen handelt, ist reines Symptombekämpfung.

Wenn ein Kind vor Hunger oder Malaria gerettet wird oder davor, brutal zu gesundheitsschädigender Bergwerksarbeit gezwungen zu werden - dann ist das in Deinen Augen vielleicht "reine Symptombekämpfung", aus Perspektive des Kindes aber eben der Unterschied zwischen Leben und Tod. Falls Du diesen Punkt wie folgt meinst:

Mit Spenden wird das Leben derer, die Hilfe bekommen, ja nicht ein für allemal gerettet. Vielleicht überlebt das Kind zwei Jahre länger, aber das könnte ja heißen, dass es halt nu zwei Jahre später verhungert - tot ist am Ende tot!

Dann sollte Dir bewußt sein, dass man mit so einer Begründung vor Gericht, weil der unterlassenen Hilfeleistung angeklagt, keine Chance hätte: "Ja, ich hätte das Kind vor dem Ertrinken retten können - aber damit hätte ich ja nicht sicher gestellt, dass es sich nicht nächste Woche schon wieder selbst in Gefahr bring. Oder nächstes Jahr. Deswegen wäre es reine Symptombekämpfung gewesen, es aus dem Wasser zu ziehen."

2. Reichtum ist immer eine Umverteilung und/oder Ausbeutung von Gütern, dies hat bereits Adam Smith in The Wealth of Nations 1776 festgestellt.

Naja, ich kenne jetzt das genaue Zitat, auf das Du Dich beziehst, nicht. Ich würde es so formulieren: Reichtum beruht auf einer Ungleichverteilung von Gütern, ist also vermutlich das Resultat einer Umverteilung (falls irgendwann alle mal gleich viel besessen haben sollten).

Allerdings lassen sich Güter nicht ausbeuten. Ausbeuten lassen sich natürliche Ressourcen (wenn man die als "Güter der Allgemeinheit" verstünde, ergäbe die von Dir gewählte Formulierung allerdings Sinn) und Menschen, bzw. menschliche Arbeitskraft. Wie das mit der menschlichen Arbeitskraft funktioniert, mit welcher der Mehrwert geschaffen wird, läßt sich en detail im "Kapital" von Marx nachlesen (der freilich, dessen bin ich mir bewußt, bei vielen Christen gleich nach, aber wirklich nur ganz kurz hinter Satan selbst rangiert und dessen Analysem nicht zu akzeptieren daher zum guten Ton gehört... 😉 ). Und dann versteht man, wie tatsächlich der ungleich verteilte Reichtum in unserer heutigen Gesellschaft das Ergebnis der Ausbeutung menschlicher Arbeitskräfte durch die Kapitalisten ist.

 

3. Gerechtigkeit ist nicht gleichbedeutend mit Egalität (Tippfehler von mir hoffentlich sinnerhaltend korrigiert).

Nein, behauptet auch niemand. Philosophisch betrachtet sind das sogar Begriffe aus unterschiedlichen Kategorien. Gerechtigkeit ist ein ethischer Begriff. Gleichheit ist ein formalistischer Begriff, der sich zumeist auf ontische Gegenstände bezieht (zwei Äpfel sind z.B. gleich hinsichtlich bestimmter Kriterien wie Größe, Gewicht oder Farbe).

Ich hatte deswegen auch des öfteren Gerechtigkeit spezifiziert, indem ich von Verteilungsgerechtigkeit sprach. Wie genau die auszusehen habe, könnte man nun noch im Detail erläutern. Rein deskriptiv würde sie bedeuten, dass jedes Mitglied einer betrachteten Gruppe einen gleich großen Anteil des jeweils betrachteten Gutes besitzt.

Im hier diskutierten Rahmen würde ich sie so verstehen, dass es drei Stufen von Verteilungsgerechtigkeit gibt: Die erste (eigentlich unabdingbare) Stufe wäre die, wo von den zur Existenzerhaltung notwendigen Gütern jedem Gruppenmitglied genug zugeteilt ist, also niemand an Hunger, oder einer medizinisch einfach zu behebenden Krankheit sterben muß. Eine zweite (sehr wünschenswerte) Stufe wäre die, dass jedem Gruppenmitglied genügend Güter zugeteilt sind, um am gesellschaftlichen Leben partizipieren zu können gemäß spezifischer Minimalstandards (Grundbildung, die Fähigkeit, an politisch relevante Informationen zu gelangen und seine politischen Interessen auszudrücken, gegebenenfalls Zugang zu basalen kulturellen Einrichtungen usw.) Eine dritte Stufe wäre da vorzuschlagen, wo zuviel konzentrierter Reichtum gesellschaftsgefährlich wird in dem Sinne, dass Reichtum ja Macht bedeutet und man es als ungerecht verstehen kann, falls jemand in der Gruppe zuviel Macht besitzt.

Oft wird zwischen Leistungs- und Verteilungsgerechtigkeit unterschieden, wobei diejenigen, die das Leistungsprinzip priorisieren, in alle Regel zu den wirtschaftlich Privilegierten gehören oder deren Ideologie "gefressen" haben. Beispielsweise die ganzen geringverdienenden Dummköpfe, die auf den "American dream" hereingefallen sind oder die FDP-Sprüche, nach denen sich "Leistung endlich wieder lohnen" müsse. Während sich freilich im Finanzkapitalismus nicht zuerst Leistung, sondern Eigentum insofern lohnt, als der Kapitalbesitzer nichts leisten muß, um dennoch zu profitieren: indem er die Arbeit anderer ausbeutet, oder, wie man es in so herrlich euphemistisch schillernde Schleier hüllt: sein Geld für sich arbeiten läßt.

Dann gibt es noch den Gerechtigkeitsbegriff, den wir hinsichtlich des Umgangs mit ethischen Pflichten und Rechten haben: Dass derjenige, der für die Verletzung einer Pflicht bestraft wird, "Gerechtigkeit" erfährt. Oder dass jemand, der duch einen anderen Schaden erfuhr, Gerechtigkeit erhält, indem jener andere ihm einen Schaden zu erstatten hat usw.

Je nachdem, wo wir über Gerechtigkeit sprechen, verstehen wir dann auch unter Gleichheit etwas verschiedenes.

Aber, seien wir mal ehrlich: das alles ist recht trivial, oder? 😉

4. Wohlstand und Reichtum sind nicht dasselbe.

Inwiefern nicht? Mir ist klar, dass Wohlstand positiv und Reichtum negativ konnotiert ist. Aber wiewohl man die Wörter nicht synonym verwenden kann  (sonst würde man statt von den Reichtümern der Natur auch von den Wohlständen der Natur reden können), bedeuten sie häufig faktisch dasselbe.

4a. Wohlstand für alle muss das Ziel einer gerechten Welt sein.

Muss es nicht, aber wir können uns gern auf so ein Ziel einigen.

4b. Wohlstand bedeutet ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit, mit allen notwendigen für ein gesundes und soziales Leben.

Da fehlt hinter "notwendigen" etwas, oder? Was genau? Du definierst hier ja den Begriff "Wohlstand" - wenn wir Deine Definition im Weiteren verwenden wollen, sollte sie schon wohldefiniert sein. 😉

4c. Wohlstand für alle bedeutet nicht, dass alle alles haben.

Das ist trivial - alles läßt sich schließlich nicht beliebig vermehren, sondern wenn auch nur einer alles hat, haben alle anderen nichts. 😀

 

5. Reichtum, der darauf beruht, dass andere, ihres Wohlstandes beraubt werden (aka Ausbeutung), ist moralisch verwerflich.

 

Da wird's jetzt spannend. Was genau ist da D.A.n. verwerflich - der Umstand, dass andere beraubt werden, oder der Umstand, dass daruch Reichtum (den Du übrigens noch nicht mit einer Definition versehen hast) generiert wurde? Wie anders als durch das Berauben anderer (per Nutzung der kapitalistischen Mechanismen, d.h. Ausbeutung fremder Arbeitskraft) ließe sich Deiner Ansicht nach denn sonst noch Reichtum erzielen? Allein durch eigene Arbeit? Das ist erstmal keine rhethorische Frage - ob sie rein rhethorisch zu verstehen sei, hängt von Deiner Reichtumsdefinition ab.

 

6. Den eigenen Wohlstand aufzugeben, um den Wohlstand anderer zu ermöglichen, ist kein moralischer Imperativ.

Sicherlich nicht. Aber den eigenen Wohlstand (teilweise) aufzugeben, um anderen das schiere Überleben zu ermöglichen, womöglich schon (hängt dann eben wieder an Deinem Wohlstandbegriff). Siehe das Ertrinkendes-Kind-Szenario.

7. Den eigenen Reichtum aufzugeben, wenn dieser auf der Ausbeutung anderer beruht, um den Wohlstand anderer zu ermöglichen, ist indes ein moralischer Imperativ.

Soweit würde ich nun wieder nicht gehen. Aber da kommt es eben wirklich darauf an, wie genau wir Wohlstand und wie wir Reichtum definieren. Wenn wir sagen: Wohlstand ist eine Lebenssituation, in welcher nicht nur das existentiell Notwendige (Nahrung, wärmende Kleidung, Unterkunft und Schutz vor vermeidbarer Krankheit) gewährleistet ist, sondern darüber hinaus noch Bedingungen herrschen, die so etwas wie "Glück und Zufriedenheit" gewährleisten (kleine Annehmlichkeiten wie fließend warm Wasser, die Möglichkeit, kulturelle Produkte wie Zeitungen, Musik, Kunst oder gemeinschaftlichen Sport zu konsumieren etc), dann würde ich sagen: es ist gesellschaftlich sicherlich anzustreben, dass alle so einen Wohlstand erreichen, und daher ergibt es Sinn, die dazu notwendigen Mittel gegebenenfalls von denen zu nehmen, bei denen sich überdurchschnittlich viel Reichtum akkumuliert hat. Allerdings halte ich das nicht für einen "moralischen Imperativ", da ich nicht der ansicht bin, dass die Menschen ein Recht auf Glück haben. Sie haben das Recht, nach Glück zu streben, man kann es ihnen allerdings nicht garantieren - allein schon, da sich die wirtschaftlichen Voraussetzungen dafür nicht quantifizieren lassen. Beispielsweise könnte man argumentieren, dass einer nicht wirklich glücklich sei, dem es nicht ermöglicht wird, mindestens einmal pro Monat in's Theater zu gehen. Wäre die Gesellschaft dazu verpflichtet, ihm diese Theaterbesuche zu garantieren?

Ich bin verpflichtet, das ertrinkende Kind aus dem Brunnenbecken zu fischen. Ich bin nicht dazu verpflichtet, ihm eine Gutenachtgeschichte vorzulesen.

Aber nochmal: Du müsstest, damit wir uns über Deinen Punkt 7 sinnvoll streiten können, erstmal noch exakter definieren, was Du unter "Reichtum, der auf der Ausbeutung anderer beruht" überhaupt verstehst.

jack-black antworten
Arcangel
(@arcangel)
Beigetreten : Vor 22 Jahren

Beiträge : 4340

@jack-black 

zu 1. Wenn jemand 42° Fieber hat, muss man mit allen unbedingt das Fieber senken, sonst stirbt die Person. Allerdings hat man mit dem Fiebersenken noch nichts unternommen, um die Infektion zu bekämpfen.

Gleichzeit ist es unter meistens kontraproduktiv, wenn man bei 37° bereits fiebersenkende Mittel verabreicht.

Ein guter Freund von mir hat jahrelang in Puntland als Entwicklungshelfer gearbeitet. Dabei haben sie festgestellt, dass Entwicklungshilfe auch kontraproduktiv sein kann. Da es die Menschen in eine Abhängigkeit führt und die Eigeninitiative der Bevölkerung komplett erodieren lässt. Ihr Fokus hat sich dann auch bald geändert hin zu Traid not Aid. Einfach Geld an das Problem werfen, ist in vielen Fällen kontraproduktiv. Deshalb sollte man sich gut überlegen, wofür man spendet und wie die Projekte aussehen.

2. Adam Smith hat einige Konzepte beschrieben, die sicher nicht ohne Kritik gesehen werden dürfen. Aber in seinem Intro beginnt er mit seiner berühmten Nadelfabrik.

‘One man draws out the wire, another straights it, a third cuts it, a fourth points it, a fifth grinds it at the top for receiving the head; to make the head requires two or three distinct operations; to put it on, is a peculiar business, to whiten the pins is another; it is even a trade by itself to put them into the paper; and the important business of making a pin is, in this manner, divided into about eighteen distinct operations, which, in some manufactories, are all performed by distinct hands’.

Er setzt diesen Prozess in den Kontrast, zur früheren Zeiten als es ein einzelner Schmied war, der sämtliche Prozesse alleine abarbeitete. Das Prinzip dahinter, dass man einen Effizienzgewinn erhält, wenn man die Arbeiten aufteilt und spezialisiert gilt auch heute noch.

Ich argumentiere, dass Wohlstandsgewinn, der auf einer solchen Effizienzsteigerung beruht, moralisch nicht verwerflich ist.

Wenn also Gesellschaft A an Wohlstand zu nimmt, weil sie Arbeit effizienter einsetzt, einer Gesellschaft B, die dies nicht macht, nichts schuldet.

Eine Gesellschaft aber, deren Reichtum darauf beruht, dass sie entweder Teile der eigenen und oder andere Gesellschaften ausbeutet, verschuldet sich an eben diesen Ausgebeuteten.

(In diese Diskussion muss man heute auch die natürlichen Ressourcen und die Umwelt mit einbeziehen.)

Das Problem ist, dass der westliche Reichtum auf einer Kombination beider Faktoren beruht. Bevor wir aber gescheit weiter diskutieren können, muss ich glaube ich die von dir geforderte Definition von Wohlstand und Reichtum liefern.

Einige Begriffserklärungen:
- Grundbedürfnisse; Mieten, Gesundheitskosten, Nahrungsmittel, Kleider.
- Mobilität; ÖV, Auto usw.
- Vorsorge; ansparen von Altersguthaben, Investition in die eigenen Kinder.
- Annehmlichkeiten; Kino- oder Restaurantbesuch, Ferien, usw.
- Luxus; Luxusgüter, exklusive Ferien, usw.

In der Schweiz gilt als arm, wer gerade genug für die Grundbedürfnisse. Diese Personen können aufgrund ihrer finanziellen Mittel kaum bis gar nicht am soziokulturellen Leben teilnehmen. Die Linken weibeln schon seit Jahren dafür, dass Sozialhilfe so weit ausgebaut werden. Dass ein gewisses Mass an Mobilität und Vorsorge durch die Sozialhilfe abgedeckt wird, damit die Kinder solcher Familien einen sozialen Aufstieg schaffen. Aber das ist ein anderes Thema.

Definition:
Wohlhabend ist jemand, der einen kleinen Teil seiner Ressourcen für Annehmlichkeiten und Luxus einsetzen kann, der aber den grössten Teil seiner Ressourcen für seine Grundbedürfnisse, Mobilität und Vorsorge aufwenden muss.

Reich ist jemand, der nur einen kleinen Teil seiner Ressourcen für Grundbedürfnisse, Mobilität und Vorsorge aufwenden muss, und den grössten Teil für Annehmlichkeiten und Luxus einsetzen kann.

Ich hab anderen Orts mal noch eine andere Definition aufgeschnappt: Wohlhabend ist, wer die oben genannten Dinge grössten teils durch seiner Arbeitsleistung deckt. Reich ist, wer die oben genannte Dinge grössten teils aus den eigenen Kapitalerträgen deckt. Ich finde diese Unterscheidung allerdings nicht so prickelnd, sie wird auch hauptsächlich von denjenigen, die sich für eine Kapitalgewinnsteuer starkmachen, eingesetzt.

Ich behaupte jetzt einfach einmal, dass Wohlstand durch eine Effizienzsteigerung möglich ist. Reichtum wird erst durch Ausbeutung (menschlicher Arbeitsleistung oder natürlicher Ressourcen) möglich.

 

arcangel antworten
Jack-Black
(@jack-black)
Beigetreten : Vor 3 Jahren

Beiträge : 3518

@arcangel Dabei haben sie festgestellt, dass Entwicklungshilfe auch kontraproduktiv sein kann.

Ja. Und Korruption kommt auch im Hilfs-Business vor. Und nichts auf der Welt ist perfekt. Schon richtig. Aber das sind Zweckrationalisierungen, um das eigene (und damit meine ich nicht Dich persönlich, sondern uns Reiche als Kollektiv) Fehlverhalten zu entschuldigen, beziehungsweise daran vorbeigucken* zu können.

 

Ich argumentiere, dass Wohlstandsgewinn, der auf einer solchen Effizienzsteigerung beruht, moralisch nicht verwerflich ist.

Nein, sowas hat ja auch niemand behauptet. Verwerflich, bzw. gesellschaftspolitisch auf lange Frist hin schlicht dumm** ist allerdings, diese aus der Arbeitsteilung resultierenden Wohlstandsgewinne nicht gerecht zu verteilen. Der Gewinn wird ja immer noch durch die investierte menschliche Arbeit generiert, fließt aber zum überwiegenden Teil an die Kapitaleigner. Ich möchte diese Diskussion allerdings hier nicht in aller Breite führen oder gar die Grundlagen der Kapitalismuskritik referieren. Bei Interesse kann jeder bei Marx nachlesen.

Wenn also Gesellschaft A an Wohlstand zu nimmt, weil sie Arbeit effizienter einsetzt, einer Gesellschaft B, die dies nicht macht, nichts schuldet.

Ja, solange man die Menschheit nicht als diesen einen Planeten gemeinsam bewohnende Gesamtgesellschaft betrachtet, kann man sich das einreden und dann eben denjenigen, die  so dumm waren, sich in Gesellschaft B hineingebären zu lassen, ungerührt beim Krepieren zuschauen. Diese Zweckrationalisierung tribalistischen Gebarens hat ja tausende Jahre lang super funktioniert auch dahingehend, die divergierenden Klasseninteressen innerhalb des eigenen Krals schön zu kaschieren, indem man Stammes-Solidarität anmahnt...

Du bringst hier eine Variante des "die sind nicht meine Nächsten"-Arguments, das sinngemäß lautet: "Die da, die Hilfe brauchen, gehören doch nicht zu uns, sollen sie also sehen, wie sie klar kommen - wir sind schließlich nur unseren Nächsten zur Solidarität verpflichtet."

Man bräuchte eigentlich nur mal aufmerksam in der Bibel zu lesen, inwiefern bei dem Nächsten, den zu lieben (den also solidarisch zu behandeln) man verpflichtet sei, etwas anderes als die räumliche Nähe gemeint sein könnte. Aber auch hinsichtlich dieser Bibelaussage pflegt man sich's dann gern kommod einzurichten, indem man sie nicht auf die globalisierten Verhältnisse abstrahieren mag.

 

Definition:
Wohlhabend ist jemand, der einen kleinen Teil seiner Ressourcen für Annehmlichkeiten und Luxus einsetzen kann, der aber den grössten Teil seiner Ressourcen für seine Grundbedürfnisse, Mobilität und Vorsorge aufwenden muss.

Reich ist jemand, der nur einen kleinen Teil seiner Ressourcen für Grundbedürfnisse, Mobilität und Vorsorge aufwenden muss, und den grössten Teil für Annehmlichkeiten und Luxus einsetzen kann.

 

Definiere: klein. 😀

 

Ich hab anderen Orts mal noch eine andere Definition aufgeschnappt: Wohlhabend ist, wer die oben genannten Dinge grössten teils durch seiner Arbeitsleistung deckt. Reich ist, wer die oben genannte Dinge grössten teils aus den eigenen Kapitalerträgen deckt. Ich finde diese Unterscheidung allerdings nicht so prickelnd, sie wird auch hauptsächlich von denjenigen, die sich für eine Kapitalgewinnsteuer starkmachen, eingesetzt.

 

 

Du findest die Unterscheidung nicht so prickelnd, weil sie von bestimmten Leuten eingesetz wird, deren Interesse Du nicht teilst? Ist das der einzige Grund, die Definition abzulehnen? In dem Fall fände ich dies einen ziemlich schwachen Grund.

 

Ich behaupte jetzt einfach einmal, dass Wohlstand durch eine Effizienzsteigerung möglich ist. Reichtum wird erst durch Ausbeutung (menschlicher Arbeitsleistung oder natürlicher Ressourcen) möglich.

Und ich behaupte jetzt einfach mal, dass Du Dich mit Kapitalismuskritik noch nicht ernsthaft auseinandergesetzt hast. Sowohl Wohlstand als auch Reichtum (für deren Unterscheidung Du m.A.n. noch keinen sinnvollen Vorschlag gemacht hast) sind ohne menschliche Arbeitsleistung undenkbar. Denn selbst "natürliche Ressourcen" müssen ja erst per Arbeitsleistung den Menschen verfügbar gemacht werden, beispielsweise, indem man sie aus der Erde herausgräbt. Immer (!) ist menschliche Arbeitsleistung nötig, um irgendwelche ökonomischen Werte zu kreiieren, auch das Kapital bleibt "totes Kapital", wenn es nicht eingesetzt wird. Im Gegenteil zu einem sprichwörtlichen Mißverständnis kann man nämlich Geld nicht für sich arbeiten lassen, sondern immer nur einsetzen, um andere Menschen für sich arbeiten zu lassen, sie also auszubeuten.

 

Wer immer aber nun per Arbeit die Ressourcen erwirtschaftet - es gibt immer auch Individuen, die solche Arbeitsleistung nicht erbringen können: Kranke, Alte oder Menschen, die sich in Situationen befinden, in denen ihre Arbeitsleistung nicht nachgefragt wird. Und die Frage bleibt: lassen wir sie krepieren oder nicht?

 

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*Mit "Vorbeigucken" meine ich ein Verhaltens-Phänomen, das ich aus meiner eigenen Suchtvergangenheit kenne: man sucht sich Gegenstände, die abseits des Problems, das eigentlich zuerst gelöst werden müßte, liegen, um nicht konkret handeln zu müssen. Bei mir waren es einst z.B. die Mahnungen und unbezahlten Rechnungen, die mir in's Haus flatterten und die ich dann irgendwo auf dem Boden neben der Wohnungstür sich auftürmen ließ. Wenn ich in die Wohnung hinein- oder hinausging, guckte ich immer woanders hin, nur nicht auf diesen wirklich konkreten Problemhaufen. In der Rückschau ist mir klar, dass dies ein Symptom meiner psychischen Erkrankung war, und das meine Augen nur das taten, was auch meine Psyche tat. Es gibt ja die berühmten drei Affen, die mit den Händen auf Ohren, Augen und Mund gezeichnet werden: nichts hören, nichts sehen, nichts sagen. Aber meiner Erfahrung nach hält man sich, wenn man Probleme nicht sehen will, keineswegs die Augen zu - sondern starrt angestrengt an den Problemen vorbei uns sucht dort, wo man selbst keine Verantwortung trägt und also für's Nichthandeln entschuldigt ist, nach Ausreden.

** Dumm insofern, als da eben gegen die moralischen Prinzipien, welche eine Gesellschaft eigentlich als richtig und zielführend ausgehandelt hatte, regelmäßig verstoßen wird.

jack-black antworten


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