So, ich hoffe, der sich auf 1.Mose 8,21 beziehende Clickbait in der Überschrift wird seine Wirkung haben... 😉
Aber tatsächlich hatte ich schon bald, nachdem ich diesen Vortrag eingeschaltet hatte, genau diese gedankliche Assoziation: Reden nicht viele Christen davon, ja ist nicht das die Grundidee des Christentums, dass der Mensch im Kern moralisch schlecht/böse/verdorben (und erst deswegen erlösungsbedürftig) sei?
Der daran anschließende Gedanke, der sich mir aufdrängte: Warum hassen viele Christen Peter Singer, obwohl der doch in seinem berühmten Aufsatz "Hunger, Wohlstand und Moral" eigentlich auf philosophischer Ebene diese Basis aller christlichen Moral - dass nämlich die Menschen üblicherweise moralisch schlecht sind und daher "umkehren", also ihr Leben ändern müssen - logisch beweist? Bisher hatte ich gedacht, die Verachtung, die einem entgegenschlägt, sobald man Peter Singer in religiösen Kreisen als Autorität in's Gespräch bringt, läge daran, dass er sich in anderen Zusammenhängen für Abtreibungsrechte einsetzt oder dafür, manche Primaten mit gleichen oder sogar stärkeren Schutz-Rechten zu versehen als beispielsweise stark behinderte Kleinkinder... Ich dachte also, Singer werde deswegen so gehaßt, weil man bestimmte seiner Meinungen als amoralisch, d.h. böse betrachtet.
Nachdem ich mich nun aber mit genannten Aufsatz näher auseinandergesetzt habe, kam mir eine gänzlich andere Ahnung: Die Empörung, ja der Hass gegen Singer speist sich womöglich aus einem schlechten Gewissen dem Mahner gegenüber. Man hasst den Überbringer der das selbstverliebte Eigenbild vernichtenden Nachricht. Singer beweist in dem Aufsatz streng logisch und ohne dass vernünftige Auswege aus der Argumentation erkennbar wären, dass wir Menschen hier im vergleichsweise reichen Westen (und das schließt die Christen mit ein) in unserer ganz überwiegenden Mehrheit uns unmoralisch verhalten. Und zwar derart krass unmoralisch, dass einem, sobald man mal drüber nachgedacht hat, jede Erwähnung "unserer zu verteidigenden Werte" wie ein schlechter Witz vorkommt.
Da nicht alle hier Englisch gut genug verstehen, um dem Vortrag zu folgen, möchte ich dessen Inhalt hier mal referieren, so gut ich es vermag. Worum geht es?
Kurz gesprochen: Um den Beweis, dass wir uns regelmäßig unmoralisch verhalten unseren eigenen moralischen Vorstellungen entsprechend: Wir erfüllen nicht die Mindestanforderungen, die wir an einen Menschen zu stellen haben, von dem man zutreffenderweise sagen könnte: Er handelt nicht böse.
Der Beweis gliedert sich so (ich übersetze die Formulierungen aus dem Vortrag, der Originalaufsatz Singers liegt mir nicht vor, daher können die Formulierungen durchaus etwas abweichen):
Prämisse 1: Wenn es in unserer Macht steht, ein sehr schlimmes (schlechtes) Ereignis zu verhindern, ohne dabei etwas von moralisch signifikantem Wert zu opfern, dann sind wir moralisch dazu verpflichtet, es zu tun.
Prämisse 2: Hunger, Krankheit oder andere Quellen von Leid, Ohnmacht und Tod sind sehr schlimm (schlecht).
Prämisse 3: All der Luxus, in den wir Geld investieren, hat keinen moralisch signifikanten Wert.
Prämisse 4: Mit dem Spenden von Geld an Wohltätigkeitsorganisationen könnten wir Hunger, Krankheiten und andere Quellen des Leids, der Ohnmacht und des Todes verhindern.
Schlußfolgerung: Daher müssen wir (sind wir moralisch verpflichtet), das Geld, das wir üblicherweise für Luxus ausgeben, Wohltätigkeit/Hilfssorganisationen spenden.
Soweit das Argument, das einiger Erläuterungen bedarf, um seine Stringenz und Unabweisbarkeit zu belegen.
Wenn man sich das Argument gründlich durchliest, wird man erkennen, dass es vor allem auf Prämisse 1 ankommt. Wenn die wahr sein sollte, wenn die Formulierung "moralisch dazu verpflichtet" zutreffen sollte - dann ist auch die Schlußfolgerung zutreffend, denn die Prämissen 2, 3 und 4 lassen sich nicht intellektuell redlich bestreiten (dass dies bei 3 dennoch öfter mal geschieht, wird weiter unten behandelt).
Schon im Vorfeld ist es wichtig, sich klar darüber zu werden, wann wir von einer ethisch relevanten Tat sprechen, die besonders gut und lobenswert ist und wann von einer ethisch relevanten Tat, die nicht besonders gut und lobenswert, sondern selbstverständlich ist, für die also niemand Lob erwarten darf, sondern vielmehr zu ihr verpflichtet ist - andernfalls wir ihn (sein Handeln) als unmoralisch/böse/verwerflich betrachten.
Es gibt für die erstgenannte Gruppe von Taten den Begriff Supererogation. Handlungen, bei denen jemand etwas "Gutes" (Altruistisches) tut, zu dem er nicht verpflichtet ist. Beispiel aus dem Vortrag: Eine Arbeitsgruppe hat sich für einen Morgentermin verabredet und jemand (Peter) bringt für alle Teilnehmer heißen Kaffee und vielleicht noch was zu Knabbern mit - für den Fall, dass vielleicht nicht alle noch Zeit hatten, was zu frühstücken. Das ist eine nette Geste, die anderen freuen sich, das Arbeitstreffen wird vielleicht produktiver usw. Supi, ganz toll, der Peter ist ein kleiner Alltagsheld für die Leute, die sich da treffen.
Anders sähe der Fall aus, wenn man sich vor dem Treffen darauf einigte: "Einer sollte vielleicht für Kaffee und eine Kleinigkeit zu Essen sorgen!", dann Peter sich meldet: "Okay, das mache ich, verlaßt euch drauf!" In dem Fall handelt es sich beim Mitbringen der Frühstückszutaten nicht mehr um eine supererogative Handlung, sondern nur um die Erfüllung einer Pflicht. Man darf von Peter erwarten, dass er den Kaffee organisiert. Wenn er diese Erwartung nicht erfüllt, hat er moralisch schlecht gehandelt.
Er hätte dann zwar genauso gehandelt wie Sandra, die ja auch keinen Kaffee mit zum Treffen bringt. Aber sie hatte sich ja auch nicht verpflichtet.
Also: Menschen kann kein Vorwurf daraus gemacht werden, keine supererogativen Handlungen auszuführen, aber wenn sie's tun, ist dies ein Grund, ihr Handeln als moralisch gut zu bezeichnen.
Man kann Menschen aber einen Vorwurf daraus machen, dass sie eine Handlung, zu der sie verpflichtet sind, nicht ausführen. Das Nichterfüllen einer Pflicht ist moralisch schlecht.
Die Frage, die sich nun stellt: sind wir überhaupt ernsthaft verpflichtet, das Geld, das wir "übrig" haben, wenn unsere Grundbedürfnisse gestillt wurden, zu spenden - oder ist so eine Spende lediglich eine supererogative Handlung, also eine kleine Heldentat (bei größeren Spenden dann eine große...)? Intuitiv sagen wir: Nö, niemand ist dazu verpflichtet, Geld zu spenden, das ist rein freiwillig. Geld zu spenden ist also supererogativ: man tut mehr, als man zu tun verpflichtet wäre.
Ihr könnt ja mal kurz für Euch selbst beantworten, wie Ihr das einschätzt. Mein erstes "Bauchgefühl" jedenfalls würde lauten: Niemand ist verpflichtet, sein Geld an Hilfsorganisationen zu spenden, statt dafür Luxusartikel (wie beispielsweise einen Kaffee bei Starbucks, eine neue Winderjacke, obwohl die alte noch durchaus ausreichend warm halten würde usw.) dafür zu kaufen.
Okay. Aber wie "richtig" ist mein Bauchgefühl? (Und, noch skeptischer nachgefragt: wie ehrlich höre ich da auf mein Bauchgefühl?*)
Hier wird nun ein weiteres Szenario eingeführt, anhand dessen es uns möglich ist unser Bauchgefühld davon, wozu wir moralisch verpflichtet seien, zu überprüfen.
Das ertrinkende Kind.
Ihr hab Euch in der Stadt mit Sandra auf einen Kaffe verabredet. Auf ihrem Weg zum Stelldichein nimmt Sandra die Abkürzung durch den Stadtpark, in dem sich eine Springbrunnenanlage oder ein flacher Teich befindet. Ein kleines Kind ist da hineingefallen und droht zu ertrinken. Sandra könnte leicht (ohne ihr eigenes Leben oder auch nur ihre Gesundheit zu riskieren) dem Kind das Leben retten, indem sie in das Brunnenbassin oder den flachen Teich steigt und das Kind da herausfischt. Dadurch würden allerdings ihre Klamotten nass, insbesondere die schönen neuen Schuhe, die sich sich extra für das Date gekauft hatte, könnten durch den Schlamm unrettbar kaputt gehen.
Ist Sandra also dazu verpflichtet, dem Kind das Leben zu retten, oder ist sie nicht dazu verpflichtet, weil sie damit ja ihre neuen Schuhe riskiert?
Für die weit überwiegende Mehrheit der Leute ist da überhaupt kein moralisches Dilemma zu erkennen: Selbstverständlich ist Sandra verpflichtet, das Kind zu retten. Die wenigen Leute, die das nicht so sehen, möchte man nicht in seiner Umgebung haben: das sind unserem üblichen Verständnis nach moralische Monster.
Die Betrachtung, dass Sandra zu der Lebensrettung des Kindes verpflichtet sei, ist bei uns ja sogar in Strafgesetze (bezgl. der unterlassenen Hilfeleistung) gegossen. Sie muß dabei inkauf nehmen, dass ihre schönen neuen Schuhe ruiniert werden und sie womöglich zu spät zum Stelldichein kommt - sie ist also verpflichtet, diese "Werte" zu opfern - weil sie keinen signifikant moralischen Wert darstellen: die Schuhe lassen sich ersetzen und für das Nichteinhalten der Verabredung kann sie sich leicht entschuldigen - ihr entgeht vielleicht ein schöner romantischer Nachmittag, aber dessen Wert ist - in Relation zum Leben des Kindes - nun wirklich nicht signifikant (bedeutend).
Wenn wir also das Szenario des ertrinkenden Kindes als Beispiel heranziehen, so scheint es die Prämisse 1 in Singers Argument zu stützen: Wenn es in unserer Macht steht, ein schlimmes Ereignis (das Sterben des Kindes) zu verhindern, ohne dabei etwas von moralisch signifikantem Wert (Schuhe, romantisches Stelldichein sind keine moralisch signifikanten Werte) zu opfern, sind wir moralisch dazu verpflichtet, es zu verhindern.
Prämisse 1 kann also als wahr, d.h. im Einklang mit unserem eigenen moralischen Standard, betrachtet werden.
Wenn aber Prämisse 1 wahr ist und wir bei halbwegs intellektueller Redlichkeit zugeben müssen, dass auch die Prämissen 2, 3 und 4 wahr sind, dann ist die Schlußfolgerung logisch notwendig auch wahr.
Im Vortrag wird noch auf mehrere Einwände eingegangen, die gegen Prämisse 1 häufig erhoben werden. Beispielsweise, dass ja auch andere Leute im Park das ertrinkende Kind hätten retten können. Oder dass dieses Szenario nicht auf das Spenden an Hilfsorganisationen übertragen werden könne, allein schon, weil selbst mit einer sehr hohen Spende nicht gewährleistet werden könne, dass alle Hilfsbedürftigen gerettet werden könnten. Oder dass die Menschen, denen Hilfsorganisationen beistehen, weit entfernt von uns leben. Falls Euch diese Einwände einleuchten oder falls Ihr noch andere Einwände gegen Prämisse 1 habt, die Ihr für potentielle Widerlegungen haltet: bringt sie hier vor - denn das ist ja ein Diskussionsforum hier. 🙂
Ich möchte noch kurz auf einen Einwand eingehen, der gegen Prämisse 3 vorgebracht werden könnte:
Einwand: Was Luxus sei, der keinen moralisch signifikanten Wert hat - und was nicht - das ist Ansichtssache (subjektiv) und kann nicht klar definiert werden. Ein Satz aber, dessen Begriffe nicht hinreichend definiert sind, kann nicht als objektiv wahr bezeichnet werden.
Dieser Einwand ist in meinen Augen formal richtig, allerdings nur so lange, wie man nicht akzeptiert, dass hinsichtlich moralischer Werte ohnehin das zählt, worauf sich eine Gesellschaft geeinigt hat. Einen moralisch signifikanten Wert haben in unserer Gesellschaft materielle Güter, die nicht direkt der Gesundheit oder dem Überleben eines Menschen dienen, nicht. Im hier diskutierten Zusammenhang ließe sich sagen: Alles, das wir nicht existentiell brauchen, um gesund zu leben, alles, worauf wir verzichten könnten, ohne dass unsere Gesundheit, unser Leben dadurch infrage gestellt würde - ist Luxus.
Wenn wir Singers Argumentation also ernst nehmen würden, wenn wir von uns sagen können wollten: ich lebe gemäß dem, was ich als moralisch verpflichtend erkannt habe - müßten wir so ziemlich alles, was wir haben, den Bedürftigen spenden. Und der Umweg über professionelle Hilsorganisationen wäre dazu der effizienteste Weg, allein schon, da sie am meisten der Hilfe Bedürftigen eben nicht in unserer Nachbarschaft sondern weit entfernt in anderen Ländern sich befinden.
Wir wären damit keine altruistischen Helden, wir hätten eigentlich kein Recht, dafür Bewunderung oder Achtung zu fordern oder zu erwarten. Wir würden lediglich das moralische Minimalziel erreichen: eine Pflicht erfüllen, die uns durch unsere eigenen moralischen Standards (unsere Werte...) auferlegt ist. Indem wir uns anders verhalten, begehen wir mit jedem Euro, den wir in irgendeine Art Luxus stecken, "unterlassene Hilfeleistung", handeln also moralisch böse.
That's it. Das ist die niederschmetternde Einsicht, zu der wir gelangen, wenn wir Peter Singers Argumentation folgen. Und das wollen wir nicht hören, weil es an unserem Selbstbild als einer Person, die doch "ihr Bestes" tut, sich moralisch richtig zu verhalten, nicht nur kratzt, sondern dieses Selbstbild mal eben radikal vom Sockel stößt und sich in einen Scherbenhaufen verwandeln läßt.
Wir verhalten uns täglich nicht nur schwach, sondern moralisch schlecht (aka böse). Das läßt sich als Fakt festhalten, übrigens ohne auch nur mit einem Wort irgendwelche göttlichen Vorgaben/Gebote/Definitionen/Ideale erwähnt zu haben.
Je mehr man nun von der eigenen moralischen Integrität überzeugt ist, je mehr man meint, zu wissen was Gut von Böse unterscheidet, je mehr man sich als Stellvertreter oder Kämpfer des Guten versteht, desto weniger wird man sich von jemandem vorrechnen lassen wollen, der es besser weiß. Das hat was mit der jeweiligen moralischen Fallhöhe zu tun. Wie praktisch dann also, wenn dieser jemand eine Meinung zu einem ethisch relevanten Thema hat, das schön weit weg ist von dieser zwillingshaften Kardinalsünde (Gier und Geiz). Peter Singer - das ist doch dieser Euthanasie-Vertreter, wie kann man denn da etwas ernst nehmen, das seinem kranken Hirn entsprungen ist?!
* Bei vermutlich vielen Leuten, so halt auch bei mir, meldet sich das Bauchgefühl mit ziemlicher Regelmäßigkeit, immer, wenn wir uns mal wieder "etwas gönnen", mit der gefühligen Nachfrage: "Bist du dir sicher, dass du mit dem Geld, das du für diesen Quatsch ausgibst, nicht etwas Besseres anstellen könntest? Ist es nicht pervers, im Winter teure Erdbeeren zu fressen, die aus einer Region eingeflogen wurden, in welcher Menschen in bitterster Armut leben? Ist der Gedanke daran, mir einen zweiten Schrank zu kaufen, weil all meine Klamotten nicht mehr in dem einen Platz finden - während anderswo barfüßige Kinder in Müllkippen nach Verwertbarem suchen?" Wenn ich aufmerksamer auf mein echtes Bauchgefühl achten würde, würde mir vermutlich übel werden. Und deswegen verdränge ich es meist, bevor es sich in konkreten Gewissensregungen verfestigen kann.
Das "erste Bauchgefühl", von dem ich oben spreche, ist eigentlich nur der zur Gewohnheit geronnene Schuldabwehr-Reflex, dessen Botschaft lautet: "Das bin doch ich, der sich entsprechend verhält, also kann es ja wohl nicht falsch sein."