"Fall Aiwanger": angemessen oder übertrieben?
Ich wollte schon länger mal einen thread zum Thema "Ansprüche an Prominente" machen, wo es um die Frage gehen sollte, wieviel Perfektion wir eigentlich von Menschen erwarten, die in irgendeiner Hinsicht Vorbilder sein können... Künstler allgemein, Musiker im Besonderen, Schauspieler, Politiker, Schriftsteller und Andere.
Was kann man einem Politiker noch durchgehen lassen, was geht überhaupt nicht mehr?
Es ist schwer dafür allgemeine Maßstäbe zu finden. Was etwa Donald Trump sich alles erlaubt hat hätte hierzulande wohl schon für hundert Rücktritte gereicht. Manchen Leuten verzeiht man viel, andere stolpern schon über vergleichbar geringe Vergehen.
Nun ist also Aiwanger ins Visier geraten, durch eine vermeintlich "antisemitische Hetzschrift", die er mit 17 Jahren verfasst oder zumindest verbreitet oder möglicherweise auch nur in seinem Schulranzen aufbewahrt haben soll.
Der Inhalt dieser Schrift ist hier im Video zu sehen:
Zur Schrift selber: Das Ganze scheint als eine Art Satire gemeint zu sein. Der "Antisemitismus" darin besteht darin, dass "Gewinner" eines "Wettbewerbes für Volksverräter" nach Ausschwitz oder in ein Massengrab geschickt werden sollen. Das ist selbstverständlich völlig geschmacklos und eine Verunglimpfung der Opfer, wenn man es so auslegen will. Aber eine Hetze gegen Juden darüber hinaus gibt es nicht, auch keine Erklärungen, was überhaupt der Anlass dieses merkwürdigen Machwerkes sein soll.
Ich persönlich habe für Hubert Aiwanger keinerlei Sympathien. Ich halte ihn für einen Populisten im Stil der AfD, der sich deren Themen und Wortwahl bedient, was für ihn politisch anscheinend recht gut funktioniert. Und da gibt es eine Menge Dinge, die man ihm hier und jetzt ganz konkret vorwerfen kann.
Aber muss man jetzt ein geschmackloses Papier ins Feld führen, das er als 17-jähriger verfasst oder auch nur mit sich im Schulranzen herumgeführt hat?
Mit 17 kann man zwar schon eine gewisse Reife erwarten, man macht aber auch viel Blödsinn. Provokation und Auffallen wollen gehört dazu. Jetzt wird das Ganze aber zur Staatsaffäre, in die sich auch der Bundeskanzler einschaltet. Und ich frage mich, was denn hier los ist... habt ihr gegen diesen Möchtegern-König der Stammtische echt nichts anderes vorzubringen als das geschmacklose Machwerk, das möglicherweise sein Bruderals Jugendlicher verfasst hat?
Muss es wirklich so dargestellt werden. als gäbe es zwischen dem 17-jährigen Hubert A. und dem 52-jährigen Hubert A. keinerlei Unterschiede?
Wer das unterstellen will, der sollte auch aufzeigen können, wie sich der Antisemitismus von damals durch das gesamte politische Wirken Aiwangers zieht. Kann ja sein, dass da was ist - aber dann muss man das auch entsprechend begründen.
Für mich stellt sich die ganze Aktion bisher jedenfalls als Verharmlosung von Antisemitismus dar... und das können wir nun wirklich nicht brauchen.
Heute fand im Bayrischen Landtag eine
Sondersitzung zur Flugblattaffäre um Aiwanger
statt (42:15 min bei Phoenix).
Zum Schluss stimmten alle Fraktionen (bis auf die AfD) dem Antrag der CSU u den Freien Wählern zu, den "Antisemitismus weiterhin entschieden zu bekämpfen".
Gestern kam in den Tagesthemen ein Beitrag über die Freien Wähler.
Ich war immer davon ausgegangen, dass die sich bundesweit zu einer Partei formiert haben. Stimmt aber nicht.
Einige Landesverbände (allen voran Bayern mit Aiwanger schon damals an der Spitze) haben sich entschieden, eine Partei zu werden, mit Parteiprogramm etc.
Andere (die Tagesthemen thematisierten Baden-Württemberg) sind beim alten Konzept geblieben: nur Kommunalpolitik, aus »Parteipolitik« halten sie such raus. Und einige der Interviewten aus BW haben ziemlich deutlich gemacht, dass sie mit der Aiwanger-Partei nix zu tun haben (und haben wollen).
Nur der Name ist der gleiche. Aus historischen Gründen.

Interessant. Scheint ein ganz eigenes Völkchen zu sein. Ähnliches hörte ich bei Markus Lanz. Dass die FW im Bayerischen Landtag sind, haben sie allein Herrn Aiwangers Engagement zu verdanken. Deshalb ist seine Person so wichtig für diese Gruppe.
Jedenfalls hat Markus Söder das Bekenntnis zum chancenlosen Antisemitismus erneuert, wie ich gestern verlinkt habe.
(Das ist bissel schwierig hier mit diesen Verästelungen der Kommunikation. )

die Freien Wähler
Der Freie-Wähler-Fraktionsvorsitzende in Bayern, Florian Streibl, trennt zwischen Bierzelt und Beichtstuhl, wenn es um Reue u Demut geht.
Kammer machen.
Wenn Herr Streibl nicht auch trennt zwischen Landtag u Bierzelt. Im Landtag hat Streibl wohl eine Resolution gegen Antisemitismus eingebracht. Ich hoffe, das wirkt bis ins Bierzelt nach...
@lucan-7 Mich würde ja mal interessieren, wie der Hubsi vom strammstehenden [Gestrichen. Bei derartigen Begriffen warten wir lieber ab, bis die Verwendung gerichtsfest ist. MfG AleschaMod] zum Bierzelt-Demokraten wurde? Wie ist da sein Weg, auch der innere?
Ich stehe mein Leben lang links von der Mitte - mit geringen Kurskorrekturen. Beim Hubert müssen da ja zum Teil ja ganze Gebirge von politischen Ansichten überwunden worden sein. Für mich ist er vom rechten Tisch seiner politischen Ansichten zum Stammtisch bzw. zur Bierzeltgarnitur gewechselt. Was ist mit dem Interview seines Schulkameraden, der in der ARD im Politmagazin "Kontraste" gezeigt wurde?

Mich würde ja mal interessieren, wie der Hubsi vom strammstehenden [Gestrichen. Bei derartigen Begriffen warten wir lieber ab, bis die Verwendung gerichtsfest ist. MfG AleschaMod] zum Bierzelt-Demokraten wurde? Wie ist da sein Weg, auch der innere?
Ich denke, der Weg ist gar nicht so weit, wie man sich das vorstellt... vorausgesetzt, er war eben nicht wirklich ein überzeugter Rassist und Nazi, sondern hat dies für eine Art "extremen Konservatismus" gehalten.
Ich kannte in der Schulzeit selber Schüler, die ab und zu mal Nazijargon verwendet haben, um sich wichtig zu machen und sich von den "Linken" abzuheben.
Damit will ich so eine Haltung nicht verharmlosen. Aber das fällt hier in ein Alter, wo eben noch nicht alles so ernst zu nehmen ist, wie es behauptet wird. Denn wie ernst es wirklich gemeint war zeigt sich dann erst später. Und Vorfälle nach der Schule sind ja bisher nicht bekannt, womöglich hat Aiwanger zu diesem Zeitpunkt auch keinen Sinn mehr in seinen Provokationen gesehen, weil ihm das Publikum dafür fehlte.

@lucan-7 Wieviele meiner Mitschüler, die eigentlich eher links eingestellt waren, mal den Hitlergruß gezeigt haben "zum Spaß", zur Provokation, weil NS-Zeit gerade thema war, dass will ich gar nicht wissen. In gewisser Weise wurde damit auch kokettiert - in einem Rahmen in dem man sich sicher fühlte, weil der Rest durchaus wusste, wie es einzuordnen ist. Und falls es jemand eher ernst meinte, dann hat er sich damals sonst nicht politisch geäußert, weil das viel zu unpopulär gewesen wäre. Aber aus Wut so nen Mist zu verfassen - hätte ich mir bei ein oder zwei Kandidaten auch vorstellen können.
Das sagt jetzt nichts drüber aus, wie Aiwanger das meinte. Der ist einfach mal 15 Jahre älter und wie damals so allgemein die Stimmung war kann ich auch nicht sagen. Als ich so 17 war, da war zumindest bei uns Rechtspopulismus ein eher nebensächliches Thema. selbst die Reps waren nicht mehr im baden-württembergischen Landtag vertreten.
Und da es ja auch einige Aussteiger aus der Szene gibt, die sich heute als Demokraten sehen (und sind), warum sollte das ein erwachsenwerdender Herr Aiwanger nicht auch geschafft haben? Wobei er ja zumindest hin und wieder noch mit Begriffen aus der Richtung spielt.
Was kann man einem Politiker noch durchgehen lassen, was geht überhaupt nicht mehr?
Das hängt von seiner aktuellen politischen Ausrichtung ab.
Ist er politischer Gegner, dann wird er reflexartig niedergeschrien. Da ist auch nichts zu blöde.
Ich persönlich habe für Hubert Aiwanger keinerlei Sympathien. [...] Aber...
Dieser Disclaimer zeigt die verdorbene Diskussionskultur.
In meinem Beruf habe ich es oft mit Menschen zu tun, mit denen ich privat eher nichts unternehmen würde und trete gegenüber dem Staat für eine rechtsstaatlichen Umgang mit ihnen ein. Ein Disclaimer ist mir da noch nicht in den Sinn gekommen.
Aber muss man jetzt ein geschmackloses Papier ins Feld führen, das er als 17-jähriger verfasst oder auch nur mit sich im Schulranzen herumgeführt hat?
Muss man, weil man nichts Aktuelleres gefunden hatte.

Zitat Lucan-7: "Ich persönlich habe für Hubert Aiwanger keinerlei Sympathien. [...] Aber..."
Dieser Disclaimer zeigt die verdorbene Diskussionskultur.
In meinem Beruf habe ich es oft mit Menschen zu tun, mit denen ich privat eher nichts unternehmen würde und trete gegenüber dem Staat für eine rechtsstaatlichen Umgang mit ihnen ein. Ein Disclaimer ist mir da noch nicht in den Sinn gekommen.
Meine ehrliche Einschätzung gegenüber einem Politiker zu nennen, den ich hier beispielhaft zum Thema mache, zeugt von "verdorbener Diskussionskultur"?
Dass du dich da beruflich im Umgang mit anderen Menschen nicht entsprechend äusserst dürfte wohl weniger mit "Diskussionskultur" zu tun haben als mit der völlig anderen und nicht vergleichbaren Situation.
Der Vollständigkeit halber möchte ich gern das Exklusiv-Interview vom 19.09.23 mit dem Freie Wähler-Chef Hubert Aiwanger in der Jüdischen Allgemeinen verlinken:
»Ich [Aiwanger] hoffe, dass sich diese insgesamt skurrile Geschichte bald beruhigt«

@martha Danke für den Link. Heute war auch bei uns in der Zeitung ein Interview mit Aiwanger. Das von Dir verlinkte halte ich für interessanter, weil es ihm Gelegenheit gibt, sich direkt an die Betroffenen zu wenden.

@martha Nachtrag: Die Überschrift ist allerdings mehr als provozierend. Die Zeitung behauptet damit, Aiwanger sei früher Antisemit gewesen. Auch im Interview stellt die Zeitung das nicht richtig, so daß nur Aiwangers Wort gegen diese Behauptung steht.

daß nur Aiwangers Wort gegen diese Behauptung steht.
Muss sagen, seine Worte haben mich sehr beruhigt und lassen ihn mir in einem anderen Licht erscheinen.
(Entweder kann er auch "anders als 🍺-Zelt" oder ein diplomatischer Kommunikationsprofi hat ihm das Nötigste anbefohlen...)
Vllt war er tats. total blockiert, als dieses Papier auftauchte, wirkte deshalb steif u unbeholfen. Und Söder hat ihn irgendwie durch dieses 🔥 hindurchgeholfen. Wer weiss.
Was er im Interview sagt, gefällt mir.
Veröffentlicht von: @lucan-7Deshalb wäre es für Aiwanger ja auch so einfach gewesen aus der Sache herauszukommen: "Tut mir leid, ich habe damals wohl ziemlich viel Mist erzählt, ich erinnere mich nicht mehr genau, was das alles war, aber ich wollte vor allem provozieren. Später habe ich mich dann ernsthaft mit Politik beschäftigt und habe vieles bedauert, was ich damals gesagt und getan habe."
Also stammt das Flugblatt jetzt doch von ihm?

Also stammt das Flugblatt jetzt doch von ihm?
Ich halte das für wahrscheinlich, aber man sollte hier im Zweifel zu seinen Gunsten entscheiden. Selbst wenn es stimmt, was seine ehemaligen Mitschüler erzählen, dass er damals immer wieder mit Nazisprüchen provoziert hat, gestehe ich jedem Menschen eine Entwicklung zu. Deshalb sollte man Aiwanger auch an dem messen, was er heute bzw. in den Jahren seiner politischen Tätigkeit gesagt und getan hat. Da ist er oft ziemlich nahe an AfD Positionen, aber das ist sein gutes Recht. Ich sehe ihn als Rechtspopulisten und nicht als Nazi.
Mit einem Eingeständnis, dass er in der Schule damals sicher auch eine Menge Blödsinn erzählt hat, würde er den Kritikern den Wind aus den Segeln nehmen. Denn was wollte man ihm dann noch vorhalten? Wenn er sagt, dass sein Interesse für Politik erst nach der Schule so richtig anfing spielt es überhaupt keine Rolle mehr, was er als Jugendlicher so alles gemacht hat.
Aber so ein Eingeständnis hätte er wohl als Niederlage empfunden. Und der Erfolg gibt ihm Recht... er hat sich nicht kleinkriegen lassen, und dafür wird er jetzt gefeiert.
Und ich würde mir wünschen, dass die politischen Gegner daraus die richtigen Schlüsse ziehen. Rechtspopulisten begegnet man nicht, indem man ihre Methoden übernimmt und mit Dreck wirft. Das bestätigt sie nur und macht sie stärker. Sondern, indem man die Wähler ernst nimmt und eine bessere Politik gestaltet.