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Was bedeutet "evangelikal"?

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andreas
Themenstarter
Beiträge : 1810

Vor kurzem gab es bei j.de einen Austausch, in dem jemand sich als nicht mehr evangelikal bezeichnete. Ich habe das nur am Rand verfolgt, aber gemerkt, dass die Reaktionen einen Austausch über die theoretischen Grundlagen der Verwendung dieses Begriffs nahelegen.

Da es sich bei "evangelikal" um einen recht jungen Begriff handelt, eröffne ich diesen Thread bewusst im Forum "Kirchengeschichte". Denn Definition heißt immer auch Abgrenzung, und diese kann ja nur die gegenüber anderen christlichen Strömungen in der Kirchengeschichte sein.

Damit ist nicht gesagt, dass die Sache selbst neu sei. Der Anspruch, das Christentum möglichst ursprünglich zu verstehen, ist also davon unberührt. Diesen Anspruch hat aber ja fast jede christliche Strömung. Insofern hat die kirchen- und theologiegeschichtliche Einordnung auch wieder Sinn.

Mich würde interessieren:

Was bedeutet der Begriff Eurem Verständnis nach?
Wie kommt Ihr zu diesem Verständnis?
Wie bestimmt Ihr das Verhältnis zu anderen Strömungen / Gruppen / Bewegungen / ... der Christenheit?
Gibt es etwas, was sich Eurer Ansicht nach gegenseitig mit "evangelikalsein" ausschließt?
Was gäbe es sonst noch zu sagen?

Vielleicht als Bonus-Frage: Würdet Ihr Euch selbst so bezeichnen?

Meinen eigenen derzeitigen Ansatz werde ich in einem ersten Kommentar darzulegen versuchen.

Den Wikipedia-Artikel kenne ich, Danke! Er ist brauchbar, aber nicht das, wonach ich fragte. 😊

Dank und Gruß von

Andreas

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1 Antwort
Helmut-WK
(@hkmwk)
Beigetreten : Vor 20 Jahren

Beiträge : 7435
Veröffentlicht von: @andreas-wendt

Mich würde interessieren:

Was bedeutet der Begriff Eurem Verständnis nach?
Wie kommt Ihr zu diesem Verständnis?
Wie bestimmt Ihr das Verhältnis zu anderen Strömungen / Gruppen / Bewegungen / ... der Christenheit?

Historisch stammt der Begriff aus dem Englischen, wo der schon eine längere Geschichte hat. In den 70-er Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde er von den Pietisten in D entdeckt und als Selbstbezeichnung übernommen, was an sich durchaus ok war (und die Pietisten haben auch eine längere Geschichte …).

Historisch ist so manches Positives durch evangelikale Gruppen gekommen: Abschaffung des internationale Sklavenhandels durch duie Methodisten, „innere Mission” durch den Pietisten Wichern, und die Baptisten waren, als sie im 17. Jh. die Religionsfreiheit gewissermaßen „erfanden”, zwar nicht evangelikal im damaligen Sinn des Wortes, gehören aber heute dazu.

Bei den, was sich in den USA evangelical nennt, gibt es einerseits eine Aufweichung theologischer Positionen - in einem englischen Forum meinte jemand auf meine Frage, warum evangelical nicht als Gruppe o.ä aufgeführt war, dass die evangelicals doch nur noch wischi-waschi wären, keiner wüsste, wofür das Wort steht. Andererseits bekommen wir in den Medien mit, dass viele US-evangelicals sich politisch immer mehr nach rechts orientieren. Zwei Gründe, warum ich mich oft nicht als evangelikal bezeichne.

Zum traditionellen pietisch-evangelikalen gehört:

  • Betonung einer persönlichen Beziehung zu Jesus (schon im 17.Jh., in Abgrenzung zur lutherischen Orthodoxie, die einseitig auf die »rechte Lehre« bedacht war)
  • Betonung der persönlichen Heiligung (dito, die extreme Gegenposition war die Auffassung, evangelische Freiheit zeige sich gerade darin, dass man bewusst sündigte)
  • Daraus abgeleitet: Betonung der Notwendigkeit einer Bekehrung (wobei der Punkt unterschiedlich stark betont wird …)
  • Betonung der Glaubwürdigkeit der Schrift, und dass sie maßgeblich ist (v.a. seit dem 18.Jh., in Abgrenzung zur mit der Aufklärung beginnenden Bibelkritik)
  • Betonung der Gemeinsamkeit aller Gläubigen in den verschiedenen Kirchen

Typisch evangelikal ist, dass man sich in einem Hauskreis trifft und über die Bibel spricht, dass man nicht alles schluckt, was der Pastor oder Prediger erzählt, sondern sich durch (gemeinsames und persönliches) Bibelstudium sein eigenes Urteil bildet, und eben, dass es darauf ankommt, was die Bibel sagt.

In den evangelikalen Kreisen, in den ich mich bewegt habe, war es selbstverständlich, dass es auch Fragen gibt, zu den die Bibel keine Antwort hat (adiaphora nennen das Theologen), dass man auch Fachinformationen (historische, sprachliche etc.) zu Rate zieht, um den Sinn einer Stelle zu verstehen (oder mindestens, dass das die benutzten Ausleger getan haben), aber auch die Option, eine Bibelstelle ganz persönlich und bewusst subjektiv auf sich zu beziehen („das hat der Herr mir heute gesagt”). Die Enge, die ich aus manchen »anti-evangelikalen« Beiträgen hier herauslese, hab ich so selten erlebt. Und auch nicht den Fanatismus. Wir sollen den Sünder (alle Menschen sind Sünder, also auch ich) lieben und die Sünde hassen. Und jeder kann sich irren, ich bin nicht unfehlbar 😉

Gibt es etwas, was sich Eurer Ansicht nach gegenseitig mit "evangelikalsein" ausschließt?

  • Bewusstes Abweichen oder eindeutiges Uminterpretieren der Heiligen Schrift
  • Sich als einzig wahre Gruppe zu verstehen (»Allianzgedanke«)
  • Ein Lebensstil ohne den Kampf gegen die innewohnende Sünde
hkmwk antworten
Anonymous
 Anonymous
Beiträge : 0

Für mich bedeutet evangelikal Folgendes.

Ich nehme das Wort erst mal vorurteilsfrei an. Denke darüber nach, bitte Gott um Hilfe und Weisheit. Nehme Bereitschaft an das Wort ernst zu nehmen und versuche mit besten Wissen und Gewissen das zu tun was ich kann. Mit dem Gedanken bereits erlöst zu sein und zu tun was Gott will und das nicht aus eigener Kraft sondern mit ihm. Dabei hüte ich mich davor fundamentalistisch zu sein.

M.

Anonymous antworten


Jimmy
 Jimmy
Beiträge : 167

@andreas-wendt 

Halla Andreas,

 

nun schreibe ich doch noch was dazu. Denn ich möchte den Begriff "evangelikal" nicht nur den Erz-Konservativen überlassen. Nein, evangelikal beschreibt eine gewisse Bandbreite von Christen, auch wenn die Evangelikalen sich bewußt von "den Liberalen" unterscheiden.

Inzwischen habe ich auch das Buch von Dietz gelesen, der die Unterscheidung von Bekenntnis-Evangelikalen und Allianz-Evangelikalen aufgenommen hat.

Zu den Bekenntnis-Evangelikalen gehöre ich nicht, auch wenn ich zum Teil deren Schrifttum zur Kenntnis nehme, um zu wissen, was die verbreiten.

Inzwischen habe ich auch so manche negative Erfahrung mit Evangelikalen gemacht: Mobbing von den ganz Frommen, Gesetzlichkeit, Überheblichkeit bei denen, die meinen sie hätten mehr Heiligen Geist als ich, bis hin zum komplettem Absprechen des Glaubens. (Wo bleibt da de Demut, die den anderen höher achtet als sich selbst?)

Ich selber, meine Theologie und mein Glauben haben sich weiterentwickelt in den vergangenen 45 Jahren. Das gilt für hermeneutische und für ethische Fragen.

Ich sehe aber auch die theologische Entwicklung der Evangelikalen in den letzten 20 Jahren. 2000 wurde um die "Bibeltreue" gestritten und einzelne Bibelschulen wurde mit dem Verdikt "nicht mehr bibeltreu" der Ruf geschädigt, so dass es einen deutlichen Spendeneinbruch gab. In den vergangenen 5 Jahren dann der immer deutlichere Streit über Homosexualität, der zeigt dass eine Reihe Evangelikaler in ihrem Leben nichts dazu gelernt haben und immer noch Positionen aus dem vorigen Jahrhundert vertreten. Und in den USA ist die Entwicklung der Mehrheit der Evangleikalen zu beobachten, die Donald Trump wie einen Messias verehren, deren Rassismus und Lügerei aber gar nicht zu meinem Verständnis von Christsein passen.

Von einigen Evangelikalen wird ein Wohlstands-Evangelium gepredigt, bei dem es letztlich hauptsächlich um den Wohlstand des Predigers geht.

Es gab aber auch schon lange bei den Evangelikalen die Vertreter, die die sozialen Themen nicht unterschlagen haben (von Ronald Sider über Jim Wallis usw. in den USA bis zu Rolf Zwick und anderen Vertretern der Micha-Initiative in Deutschland). Oder die wie Michael Diener die christlichen Homosexuellen als wertvolle gläubige Menschen wertschätzen können (vgl. das Coming-In-Treffen neulich).

Daher möchte ich Evangelikalien nicht verlassen, obwohl man sich da des öfteren fremd schämen muss, wenn über "die Evangelikalen" berichtet wird.

So gilt es also weiterhin, in der Bibel zu lesen, persönlich auf Jesus zu vertrauen, zu beten und anderen darüber ein Zeugnis zu sein, was sich durchaus auch auf das Verhalten in der Gesellschaft auswirken kann ... .

 

Gruß Jimmy

 

 

jimmy antworten
1 Antwort
Queequeg
(@queequeg)
Beigetreten : Vor 17 Jahren

Beiträge : 5713

@jimmy 

Mauerfall

Ich stehe dem Evangelikalen alles andere als nahe. Aber Deine Ausführungen sind gut und wichtig, um überflüssige Mauern einzureißen. So jedenfalls kann man auf Augenhöhe miteinander reden. Schön, dass Du es so geschrieben hast.

queequeg antworten
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