Diskussionskultur und Gruppendynamik
In meiner Schul- und Unizeit habe ich eine Atmosphäre kennen gelernt, in der die kritische und freie Meinungsäußerung sehr stark gefördert wurde. Ich hatte immer das Gefühl, sagen zu können, was ich denke, ohne dass mich jemand für meine manchmal kontroversen Ansichten sozial ausgegrenzt oder benachteiligt hätte.
Ich habe das Gefühl, dass sich diese Situation grundlegend in den letzten 6-7 Jahren gewandelt hätte. Nein, ich bin kein Migrationskritiker. Ich bin auch kein Verschwörungstheoretiker. Und auch kein Afd-Sympatisant. Aber ich habe das Gefühl, dass ich mich von diesen und anderen Gruppen Gruppen deutlich abgrenzen muss, um sozial akzeptiert zu bleiben und weiterhin Ernst genommen zu werden. Ich habe das Gefühl, dass ich in Deutschland aufpassen muss, was ich sage, damit mir keine sozialen oder beruflichen Nachteile entstehen. Dass nicht einmal der Verdacht entsteht, ich könnte mit bösen Nazis oder Rechten oder Verschwörungstheoretikern oder AfD-Sympatisanten oder Rassismus-Begriff-Befürwortern oder Lockdown-Kritikern oder Homophoben oder ... oder .. oder ... auch nur im Entferntesten etwas zu tun haben. Und die Menge der Gruppen, von denen ich ich stândig unter Beweis stellen muss, dass ich nicht dazu gehöre, nimmt immer mehr zu. Bis jetzt waren das alles Gruppen, zu denen ich tatsächlich nicht gehöre. Aber meine Beobachtung, dass soziale Ausgrenzung und Gruppendruck wieder salonfähig geworden sind, nimmt mittlerweile bedenkliche Ausmaße an.
Den "Anderen" geht´s in der Herde immer schlecht...
Zu meiner Schulzeit war es auch noch so, daß Bonhoeffers "es wird wirklich darauf ankommen, ob Machthaber sich mehr von der Dummheit oder von der inneren Selbständigkeit und Klugheit der Menschen versprechen" noch beachtet wurde.
Ich hatte tatsächlich das Gefühl, daß Lehrer u.a. uns zu mündigen und selbständigen Bürgern machen wollten. Das ist aber lange her und Erinnerungen können täuschen.
Heute habe ich das Gefühl, daß nicht mehr so sehr auf diese Karte gesetzt wird. Der Mensch ist eben ein Herdentier. Darüberhinaus auch sehr bequem und faul. Ich habe den Eindruck, daß viele Menschen einfach die Parolen der Mehrheit nachmuhen. Und wenn man konkret nachfragt, wieso und weshalb und warum, kriegt man ein hysterisches "Ist eben so! Und jetzt hau ab du Nazi, Tiermörder, AfD-Schwein, Rassist, Antisemit, Verschwörungsspinner, Schwulenhasser" usw. usf. zu hören. Keine Diskussion!
Ich will jetzt nicht sagen, daß die Mehrheitsmeinung schlecht ist, nur daß die Wenigsten fest überzeugt dahinterstehen und je nach Zeit und Mode ihre Meinung auch wieder ändern können.
1933 - 1945 waren die wenigsten Menschen in Deutschland überzeugte Nationalsozialisten. Sie folgten einfach stumpf dem Willen des Alphatiers.
Heute sind die Mehrheitsmeinungen - zum Glück! - andere. Und auch hier folgt man größtenteils wieder stumpf, obgleich man heute alle Möglichkeiten hat, sich zu informieren: Mensch bleibt Mensch. In der Masse leider dumm und folgsam.
Veröffentlicht von: @freigeist04Ich habe das Gefühl, dass ich in Deutschland aufpassen muss, was ich sage, damit mir keine sozialen oder beruflichen Nachteile entstehen.
Ja, das habe ich selber letztens erlebt. Ich habe in der Firma meine Meinung zu einer gewissen geringen Sache kundgetan, wie ich es bis dahin immer getan habe, und wurde plötzlich zum Oberboss (!) zitiert, der mich wissen ließ, daß das nun "nicht mehr gewünscht" sei, da der Feind mitten unter uns wäre und das Internet für seine Zwecke nutze. Seitdem habe ich zu schweigen bzw. wenn ich mal wieder das Bedürfnis habe, meine Meinung kundzutun, habe ich das vorher direkt mit dem Vorstand oder - wenn dieser nicht greifbar - mit unserer Unternehmenskommunikation abzusprechen. Nie wieder aber auf eigene Faust. Nie wieder mit eigenen Worten.
Seitdem nutze ich nur noch vorgefertigte Floskeln - kopieren und einfügen - zur Kommunikation, wie ein Automat, damit keiner mehr was beanstanden kann. Seitdem sind auch alle zufrieden. Fühlt sich zwar nicht richtig und lebendig an, soll aber so sein.
Veröffentlicht von: @freigeist04Und die Menge der Gruppen, von denen ich ich stândig unter Beweis stellen muss, dass ich nicht dazu gehöre, nimmt immer mehr zu.
Das erlebe ich nicht, da ich zwischen Arbeit und Familie keinerlei persönliche Kontakte habe, ich kann´s mir aber vorstellen, daß das so ist, wenn man sich in der Öffentlichkeit bewegt.
Veröffentlicht von: @freigeist04Aber meine Beobachtung, dass soziale Ausgrenzung und Gruppendruck wieder salonfähig geworden sind, nimmt mittlerweile bedenkliche Ausmaße an.
Muh und mäh! Den "Anderen" geht´s in der Herde immer schlecht. Also entweder mitmachen das Spiel oder sich außerhalb von Dornen und Disteln nähren.
Dem kann ich nur 100 % zustimmen. Die freie Meinungsäußerung geht den Bach runter, auch sehr schön hier auf j.de zu beobachten. Allerdings gilt das meiner persönlichen Erfahrung nach nur virtuell, von Angesicht zu Angesicht kann ich auch heute noch kontrovers diskutieren ohne unzählige Fettnäpfchen umschiffen zu müssen, leider ist das wegen der sozialen Medien und mit zunehmenden Alter immer seltener.
Ich hab eher den Eindruck, dass in den letzten Jahren die Tendenz zunimmt, dass viele Leute (argumentativen) "Gegenwind" als Ausgrenzung oder gar Mobbing betrachten. Und glauben, dass Meinungsfreiheit bedeutet, dass alles unwidersprochen stehen bleiben müsse.
Und wenn ich das mit meiner Studienzeit vergleiche (so um 2010 rum, aber da hatte ich schon den Vergleich zur Arbeitswelt, also war längst nicht mehr 20), dann fällt mir da vor allem auf, dass es längst nicht so bekloppte Meinungen gab (sorry, aber das wird ja in den letzten Monaten immer schlimmer), die Verbreitung fanden. Ohne die Möglichkeit auch den größten Blödsinn weit zu verbreiten, blieb viel Spinnerei, wo sie hingehört: an den Stammtisch (oder die Äquivalente aus anderen Gesellschaftsgruppen). Man musste sich nicht zu Reichsbürgern und Co. positionieren, sie waren ein zumeist unbekanntes Randphänomen, das man nur durch Zufall herausfand.
Das ist heute einfach anders.
Dass es in der letzten Zeit viele unsinnige Meinungen gibt, da stimme ich dir zu. Das gab es in meiner Schul- und Studienzeit tatsächlich so nicht.
Vielleicht kann das auch eine Ursache für die Veränderung der Diskursatmosphäre sein. Dennoch habe ich den Eindruck, dass hier nicht nur argumentativer Gegenwind existiert, sondern dass gewisse Meinungen mit Mitteln des Gruppendrucks eingefordert oder ausgegrenzt werden.
Veröffentlicht von: @freigeist04Dennoch habe ich den Eindruck, dass hier nicht nur argumentativer Gegenwind existiert, sondern dass gewisse Meinungen mit Mitteln des Gruppendrucks eingefordert oder ausgegrenzt werden.
Hm, mag sein, vielleicht unterscheidet sich da unsere Wahrnehmung? Ich denke gerade an Diskussionen, wie die um Hans Söllner. Der war immer schräg unterwegs, ist aber durch seine Impfgegnerschaft und dann die zunehmend "schwurbeligen" Verschwörungserzählungen, in eine Richtung abgedreht, die ich auch mit gutem Willen nicht mehr "lässlich" empfinde.
Ein Problem oder auch ein Kennzeichen der sozialen Medien ist natürlich, dass man vielfach gleich eine ganze Menge Gegenwind bekommen kann - ich kann nachvollziehen, dass man das selbst als eine Art Druck empfindet, man müsse sich anpassen. Aber wenn man drauf schaut, dann handelt es sich schlicht und ergreifend um das Ergebnis der schieren Reichweite. Ich denke nicht, dass es wirklicher Druck ist.
Woran ich die Veränderung der Diskurskultur im großen Stil bemerke, ist, z.B., dass große Internetforen, die vor 10 Jahren wirklich Hochkonjunktur hatten, zu großen Teil verschwunden sind. Dafür ist Schmalspurkommunikation via Instagram und Snapchat angesagt. Kurze Meinungs-Statements, schnelle Likes oder Dislikes. Wenig Argumentation. Auch Kommentare auf Spiegel oder FAZ sind mittlerweile meinungsstark und faktenarm. Es geht nicht mehr darum, in einen konstruktiven Meinungsaustausch zu kommen. Sondern nur noch darum, sich zu positionieren und zu zeigen, auf welcher Seite man steht. Diskussionen über Standpunkte sind mittlerweile so fruchtbar wie das Gespräch zwischen Martin Luther und seinen katholischen Kontrahenten.
Das ist natürlich eine bedenkliche Entwicklung... aber das ist eine etwas anderes Aussage als im Eingangsposting.
Ich sehe die Verbindung darin, dass das, was ich sage, heute viel stärker dafür verwendet wird, mich in ein Freund-/Feind-Schema einzuordnen und viel weniger dafür verwendet wird, mit mir in einen argumentativen Austausch zu kommen.
Während vor 10 Jahren die Reaktion auf eine abweichlerische Meinung eher war
"hast du schon Mal darüber und darüber nachgedacht? Das sehe ich anders. Aus den und den Gründen"
ist heute die Reaktion auf eine abweichlerische Meinung eher
"du blöder ... , dass du hier überhaupt noch mitreden kannst, ... du bist eine Schande für unsere Gesellschaft ... ich werde dafür sorgen, dass deine Frau und dein Chef erfahren, was für ein Arsch du bist"
Meinungsvielfalt nimmt zu
Mein Eindruck ist ganz im Gegenteil, dass die Meinungsvielfalt zunimmt... es finden sich, bedingt durch die sozialen Medien, plötzlich viel mehr sehr unterschiedliche und auch extremere Positionen, die damit stärker auf Widerspruch stoßen als das früher der Fall war.
Dieser Widerspruch, der ja die Grundlage jeder Diskussion und Debattenkultur ist, wird dann von vielen als "Verbot" wahrgenommen.
Ich persönlich kann mit derartig weinerlichen Reaktionen auf Widerspruch nicht viel anfangen... jemand stimmt einem nicht zu?
OK, kann man seine Ansicht denn auch gut begründen?
Oder zieht man sich direkt in die Schmollecke zurück, wenn man auf jemanden stößt, der nicht der gleichen Ansicht ist, aber auch keine Lust zum Diskutieren hat?
Veröffentlicht von: @freigeist04Ich habe das Gefühl, dass ich in Deutschland aufpassen muss, was ich sage, damit mir keine sozialen oder beruflichen Nachteile entstehen. Dass nicht einmal der Verdacht entsteht, ich könnte mit bösen Nazis oder Rechten oder Verschwörungstheoretikern oder AfD-Sympatisanten oder Rassismus-Begriff-Befürwortern oder Lockdown-Kritikern oder Homophoben oder ... oder .. oder ... auch nur im Entferntesten etwas zu tun haben.
Das wundert mich ein wenig. Ich arbeite zur Zeit in einem eher "linken" Umfeld... und habe keine Probleme damit, das Verhalten von Migranten zu kritisieren, eher traditionelle Werte zu vertreten, gegen Abtreibung zu sein, Merkel zu verteidigen oder sogar zu erwähnen, wo die AfD oder Trump auch richtig liegen.
Die Frage ist halt immer: Wie genau tut man das, wie ordne ich das ein und wie begründet man es?
Wenn man dabei schwammig und oberflächlich bleibt, dann darf man sich auch nicht wundern, wenn das Gegenüber die Unklarheiten als Anlass für Unterstellungen nutzt.
Und wenn die Leute schlicht anderer Ansicht sind als man selbst - nun, dann ist das eben so. Willkommen in einer Demokratie mit freier Meinungsäusserung...
Ein Problem habe ich nicht mit Leuten, die diskutieren und ihre (Gegen-) Meinung kundtun. Sondern mit Leuten, die eben nicht mehr diskutieren. Die betreten schweigen, wenn ich erzähle, dass ich ein Gespräch mit einem AfD-Wähler gehabt habe, hinter meinem Rücken tuscheln und mir unterschwellig zu verstehen geben, dass ich mit solchen Leuten nichts zu tun haben sollte. Die mich tagelang komisch von der Seite ansehen, nachdem ich einen politisch inkorrekten Standpunkt tatsächlich argumentativ in Erwägung gezogen habe.
Veröffentlicht von: @freigeist04Ein Problem habe ich nicht mit Leuten, die diskutieren und ihre (Gegen-) Meinung kundtun. Sondern mit Leuten, die eben nicht mehr diskutieren. Die betreten schweigen, wenn ich erzähle, dass ich ein Gespräch mit einem AfD-Wähler gehabt habe, hinter meinem Rücken tuscheln und mir unterschwellig zu verstehen geben, dass ich mit solchen Leuten nichts zu tun haben sollte.
Hm. Was das betrifft war ich immer ein wenig naiv und habe so etwas früher kaum mitbekommen. Inzwischen bin ich da etwas sensibler und weiss, wie manche Leute reden und dass sie dabei nicht offen sind... aber dabei wird mir auch klar, dass das früher auch nicht anders war - nur habe ich es halt nicht so bewusst erlebt.
Aber man wird halt älter, und das bringt da auch eine gewisse Erfahrung und Sensibilität mit sich. Ich habe aber nicht den Eindruck, das sich da jetzt etwas Entscheidendes geändert hätte.
Sich als schwul outen
Veröffentlicht von: @freigeist04Ein Problem habe ich nicht mit Leuten, die diskutieren und ihre (Gegen-) Meinung kundtun. Sondern mit Leuten, die eben nicht mehr diskutieren. Die betreten schweigen, wenn ich erzähle, dass ich ein Gespräch mit einem AfD-Wähler gehabt habe, hinter meinem Rücken tuscheln und mir unterschwellig zu verstehen geben, dass ich mit solchen Leuten nichts zu tun haben sollte.
Ja und?
Was denkst du, wie jemand Probleme hat, der sich als schwul outet.
Ist halt so.
Kannst du dafür Beispiel bzw. Belege nennen? Viel mehr als ein Statement erscheint mir das nicht. Ich würde das gerne etwas greifbarer haben. Das klingt für mich so danach, als wäre in deiner Welt Thilo Sarrazin immer noch ein gern gesehenes SPD Mitglied. Er hat halt nur eine andere Meinung.
Veröffentlicht von: @showtimeKannst du dafür Beispiel bzw. Belege nennen? Viel mehr als ein Statement erscheint mir das nicht.
Nö. Es ist ein "Statement".
Ansprüche darüber hinaus erfülle ich nicht... wer bin ich denn...?
Also eine gefühlte, erlebte Wahrheit. Na gut das kann man ja auch stehen lassen.
Dein Wunsch nach einem greifbaren Beispiel zeigt doch, dass ich Recht habe. Dich interessiert das Thema der veränderten Diskurskultur gar nicht. Sonst wäre die Frage nach einem Beispiel irrelevant. Aber du möchtest mich habhaft machen. Prüfen, ob ich nicht doch einer dieser Rechten bin. Mich in ein Freund-/Feind-Schema reinpressen. Das ist dann wohl die heutige Grundhaltung im Diskurs.
Von Thilo Sarrazin halte ich wenig. Mich interessiert es auch wenig, ob die SPD ihn respektiert oder diskreditiert. Kaum einer kennt seine Thesen. Aber jeder weiß, dass er ein böser Rassist ist, von dem man sich fernhalten sollte.
Es gab Zeiten, da hätte ein Buch mit Thesen wie denen von Sarrazin eine argumentative Antwort provoziert. Ein Gegenbuch mit einer ausführlichen Widerlegung. Aber heute geht es nicht mehr ums Argument. Es geht nur noch darum herauszufinden ob Freund oder Feind.
Ähm... ich denke du hast mich missverstanden, obwohl du mich verstanden hast. Das ist seltsam. Passt aber in die Zeit.
Und es ging in meinem Beitrag gar nicht um deinen Beitrag sondern um den von Lucan.
Veröffentlicht von: @freigeist04In meiner Schul- und Unizeit habe ich eine Atmosphäre kennen gelernt, in der die kritische und freie Meinungsäußerung sehr stark gefördert wurde. Ich hatte immer das Gefühl, sagen zu können, was ich denke, ohne dass mich jemand für meine manchmal kontroversen Ansichten sozial ausgegrenzt oder benachteiligt hätte.
Du Glücklicher, ich hoffe, bei dir und anderen, die das erlebt haben, konnte sich ein gutes Selbstbewusstsein formen.
Alles andere nehme ich ähnlich wahr. Die herablassene und grobrastrige Art, mit der über andere Meinungen geurteilt wird, bringt Andersdenkende zum Rückzug. Als Folge davon sehe ich eine Menge Alternativkulturen, die akzeptiert haben, dass sie nicht zum Mainstream gehören. Da ist einiges auf der Kippe.