In einem anderen Thread regte ich mich kürzlich darüber auf, wie der Humanismus als vom Teufel inspiriert oder Menschen als Maden bezeichnet werden.
Das war mir Anlaß, darüber nachzusinnen, warum ich die Menschen nicht als böse, schlecht oder wertlos verstehen kann und warum mit die humanistischen Ideale etwas bedeuten. Ich fragte mich, in welchen Momenten sich mir "offenbarte", dass Menschen wundervolle, liebenswerte Wesen seien. Ein paar dieser Momente möchte ich hier auflisten. Vielleicht habt Ihr ja ähnliche Momente erlebt, von denen Ihr berichten möchtet?
Der Minibaggerfahrer
Ich wachte an einem Sonntagmorgen halb sieben Uhr in der Frühe davon auf, dass es draußen laut krachte. Meine Wohnung lag im dritten Stock eines Hauses direkt an einer Straßenkreuzung, die wochentags stark befahren war (gerade morgens in der Rush-Hour), sonntags eigentlich nicht. Ich stieg aus dem Bett und sah, dass da ein Auto in ein anderes reingedonnert war, sodaß dieses von der Fahrbahn geriet und dabei einen Verteilerkasten halb von seinem Sockel rasierte. Ich suchte noch mit halb schlafblinden Augen nach dem nächtens irgendwo abgelegten Telefon, um den Notdienst anzurufen als schon Blaulicht durch's Fenster blinkte. Da war wohl jemand noch schneller gewesen. Nun hatte ich als Gaffer einen schönen Ausblick von dem Eckzimmer auf die gesamte Szenerie. Innerhalb kürzester Zeit - es können nicht mehr als fünf Minuten gewesen sein - spuckten zwei Streifenwagen vier oder fünf Polizisten aus, die daran gingen, den Unfallort mit Warnleuchten und Absperrungsbändern zu sichern. Eine junge Frau, vermutlich die Fahrerin eines der Wagen, wurde von Notfallhelfern neben einem Feuerwehrauto versorgt. Einige der Polizisten redeten mit Leuten, die um den Unfallort herum standen. Wohl, da es sich um Zeugen handeln konnte. Ich war nicht der einzige Gaffer, aber es war scheinbar niemand wirklich stark verletzt worden und nach einer Dreiviertelstunde hatten sich die kleine Menschenmenge wieder aufgelöst, die Unfallautos waren abgeschleppt, die Streifen- und der Krankenwagen waren abgefahren. Die Kreuzung war wieder leer, wie es sonntagmorgens sein sollte - nur der Verteilerkasten stand schief wie ein umgewehter Flamingo - unten ragten Kabel hervor.
Ich machte mir einen Kaffee, da hörte ich wieder Lärm von unten: ein Reparaturwagen von den Stadtwerken war angekommen, der Verteilerkasten wurde geöffnet, jemand werkelte darin herum. Bei mir im Badezimmer ging das Licht aus - der Strom war für's erste abgestellt. hernach wurde der Verteilerkasten mit einer Art Plastik-Überwurf gesichert. Die Leute von den Stadtwerken fuhren wieder weg, ich schüttete mir tüchtig Milch in den Kaffee, schloss aber den Kühlschrank schnell wieder. Wer konnte wissen, wie lange der Stromausfall andauern würde...
Eine Viertelstunde verging, in der ich mich ärgerte, den Kaffee getrunken zu haben - nun würde ich mich nicht mehr wieder hinlegen und noch zwei Stündchen Sonntagsschlaf halten können. Dann, so gegen acht Uhr, drangen wieder Geräusche empor von der Straße. Ein Baufahrzeug parkte fünfzig Meter weiter die Straße runter, wo noch eine Parklücke klaffte. Hinten drauf auf dem Anhänger war ein Minibagger, wie ich ihn vorher noch nie gesehen hatte. Ein unglaublich dicker Mann stieg aus dem Fahrzeug, klappte hinten etwas herunter, dass sich als Rampe benutzen ließ, setzte sich in den Steuersitz des Minibaggers, über den seine dicken Beine seitlich hinausquollen. Dann fuhr der den Minibagger die Rampe hinab, steuerte den Minibagger zu der Kreuzung und begann, unglaublich geschickt mit dem Baggerarm hantierend, die Gehwegplatten rund um den ramponierten Verteilerkasten herauszuhebeln. Dann stieg er aus dem Bagger und sammelte die gelockerten Platten auf, um sie säuberlich an der Wand des angrenzenden Hauses aufzustapeln. Die Platten waren nicht riesig aber sicherlich knappe zwanzig Kilo schwer pro Stück. Der dicke Mann richtete sich zwei, drei mal auf, um ein Hohlkreuz zu machen. Vermutlich strengte ihn die Arbeit sehr an, aber bis auf das kurze Aufrichten gönnte er sich keine Pause.
Nachdem die Gehwegplatten ausreichend beseitigt waren, grub der Mann mit seinem Minibagger ein Loch seitlich von dem Verteilerkasten. Wahrscheinlich, so meine Vermutung, waren durch den Unfall die Kabel, die zu dem Verteilerkasten führten unten in der Erde beschädigt worden... Der Mann arbeitete ohne Unterlaß. Selbst auf die Entfernung konnte ich auf seiner Halbglatze den Schweiß glänzen sehen. Er arbeitete allein, niemand beaufsichtigte ihn. Er arbeitete sonntag morgens, er arbeitete schnell, umsichtig, gründlich, äußerst professionell. Nach knappen zwei Stunden war er fertig. Er bugsierte den Minibagger wieder auf die Ladefläche des Baufahrzeugs. Dann zog er ein großes Stoff-Taschentuch aus der Hosentasche und trocknete sich damit nicht nur die Stirn sondern den ganzen Kopf, die vom Schweiß klatschnassen Haare. Er zog ein Handy und führte ein kurzes Gespräch.
Das Licht in meinem Badezimmer ging wieder an. In dem Moment liebte ich diesen dicken Mann. Er hatte hier an einem Sonntagmorgen malocht wie ein Kutschpferd, damit die Anwohner noch rechtzeitig zum Stonntagsfrühstück wieder Strom haben konnten. Das machte mich glücklich, dieser mir fremde Arbeiter machte mich glücklich - und ein klein wenig traurig, denn ich war die fremde Leute diagnostizierenden Kommentare eines befreundeten Arztes inzwischen schon so gewöhnt, dass sie schon zu einer eigenen Angewohnheit geworden waren. Vermutlich würde dieser tüchtige Arbeiter in fünfzehn bis zwanzig Jahren an einem Herzinfarkt, einem Schlaganfall, an Diabetes oder einer anderen Stoffwechselkrankheit versterben und nicht mehr viel von seiner Rente, die er sich auf so ehrliche Weise verdiente, genießen können. Er machte mich glücklich und traurig, der dicke Minnibaggerfahrer. Ein liebenswerter Mensch.
Die Clique
Ich saß in einem Überland-Bus, der vom Zentrum einer norddeutschen Großstadt aus die Leute in ihre Dörfer beförderte. Auf meine Reiselektüre konnte ich mich schlecht konzentrieren, denn schräg mir gegenüber hatten sich auf die vier Sitzplätze einer Zweierbank-Gruppe insgesamt sechs Jugendliche, drei Jungs und drei Mädels, gezwängt, die laut miteinander redeten und scherzten. Ich beobachtete sie aus dem Augenwinkel heraus, versuchte, ihre jeweiligen Verhältnisse zueinander zu bestimmen, wer war da offener, wer heimlicher Anführer, wer war der Clown, wer der stille Immer-dabei-Typ? Welches Mädchen war in welchen Jungen verschossen - oder andersrum? Am Fenster saß der am besten aussehende Junge, Typ Prinz Charming, er redete weniger als seine beiden Kumpels, aber wenn er was sagte, hingen die Mädchen an seinen Lippen. Alles klar... 😀
Zwei weitere Mädchen stiegen ein. Sie schienen zu der Clique zu gehören und wurden mit lautem Hallo begrüßt. Eine der beiden war eine ausgemachte Schönheit, Typ Influencerin mit zwei Millionen Followern auf YT. Die andere war ein ausgesprochen häßliches Mädchen. Dicklich mit fleischig-groben Gesichtszügen, strähnigen straßenköterbraunen Haaren und einer offenkundigen Tendenz, sich möglichst unvorteilhaft zu kleiden.
Die Begrüßung fiel ausführlichst aus: jedes der beiden Mädchen wurden von den Sechs schon vorher Anwesenden umarmt und tüchtig gedrückt. Diejenigen, die am Fenster gesessen hatten, mußten dazu erstmal aufstehen und auf den Gang heraustreten. Prince Charming huggte das häßliche Mädchen besonders doll und versicherte, wie sehr er sich freue, sie mal wieder zu sehen. Nach der Begrüßungszeremonie stellte sich die Frage, wer denn nun stehen müsse, denn auf den vier Sitzplätzen hatten vielleicht sechs, aber nicht acht Leute nebeneinander Platz. Die Lösung bestand darin, dass zwei der Jungs, Prinz Charming und der Cliquenclown, aussen am Gang zu sitzen kamen und jeweils eins der Mädels auf den Schoß nahmen. Und so saß das häßliche Mädchen auf dem Schoß von Prinz Charming und irgendwie... Wurde sie immer weniger häßlich. Sofort war sie, wie auch ihre schöne Begleiterin, voll mit einbezogen in das Labern, Lästern, Flirten und Giggeln, kurz: das Gruppenglück der Clique, und dieses Glück ließ sie, wie ihre Freunde, strahlen. Eben noch hatte ich sie halb verachtet, halb bemitleidet, wie sie so scheinbar bloß als Kontrast zur nochmaligen Hervorhebung der Attraktivität ihrer Freundin zu dienen schien. Nun aber ertappte ich mich dabei, wie ich sie zu beneiden begann, am liebsten mit ihr getauscht hätte. Diese acht Jugendlichen, die da, einem an einem Ast als Traube hängenden Bienenvolk nicht unähnlich, mir schräg gegenüber saßen: das waren liebenswerte, wertvolle Menschens, wie eine Duftwolke wehte etwas von ihrem Glück zu mir herüber.
Die Verkäuferin
Es war einer von diesen Novembertagen... Es war kalt, es nieselte, der Himmel eine Mischung aus Grau und Grauer. Den Vormittag hatte ich in meinem Atelier damit verbracht, ein schon halbwegs fertiges Bild kaputtzumalen und eine zweite Leinwand mit einer grottenschlechten Schrott-Skizze zu verschandeln. Dann war mir, weil ich in meiner Wut dazu tendiere, grob mit meinen Materialien umzugehen, der Pinselwasch-Behälter mit dem schmutzigen Terpentinersatz umgekippt und hatte seinen Inhalt über die Mischfläche meines Palettenwagens, sowie über den Fußboden verteilt. Große Sauerei, der Gestank des Lösungsmittels, von dem sich eine gute Portion auch auf meine Klamotten begeben hatte, war umso ätzender, als ich aus Erfahrung wußte, dass der Kopfschmerz, den es verursachte, mich erst zeitverzögert am nächsten Tag so richtig beglücken würde.
Ich hatte also erstmal allen Kram hingeschmissen verfügte mich zu der Bäckerei, in der ich regelmäßig mir einen Latte Machiato und ein paar Rosinenbrötchen zur Kaffeepause hole.
Auf dem Weg dahin - ich hatte keinen Schirm dabei - wurde ich schön vom Novembernieselregen durchweicht. Vor mir waren drei andere Kunden dran. Als ich endlich an der Reihe war, merkte ich, dass ich vergessen hatte, meinen Kaffeebecher mitzubringen. Da ich den Coffe-to-Go-Pappbechermüll zu hassen gelernt habe, weil der hier auf dem Lande die Straßenränder verschandelt, würde es also mit dem LM diesmal nix werden. Die Verkäuferin - eine andere als die, die sonst hier bediente, meinte, sie könne mir ja hier, am Stehcafé-Tisch, einen Becher servieren. Ich blaffte sie an, dass ich dazu keine Zeit hätte, weil die Arbeit dränge und manche Leute sich halt nicht soviel Zeit beim Arbeiten nehmen könnten wie andere. (So, als hätte sie die Kunden vor mir extra langsam bedient, damit ich länger warten müsse.) Rosinenbrötchen waren aus, also ließ ich mir ein Käserötchen belegen. Weil ich keinen Bock auf die schon fertig belegten Brötchen hatte, verlangte ich, dass mir eins der Kürbiskernbrötchen belegt würde. Was der Verkäuferin zusätzliche Arbeit bereitete. Geschah ihr ganz recht, dieser Trulla! Dann griff ich mir eine Pfandflasche mit Apfelschorle aus dem Kühlschrank und ärgerte mich innerlich darüber, dass ich für die hier fast einen Euro mehr berappen müsse, als wenn ich sie im Supermarkt gekauft hätte. Ich legte einen Schein auf die Theke, trippelte ungeduldig, bis mir das Wechselgeld ausgehändigt wurde, stopfte mir die Tüte mit dem Brötchen unter die Jacke, damit es nicht bei dem Scheißwetter auch noch durchnäßt werde, klemmte mir die Flasche unter den Arm und verließ grußlos die Bäckerei. Der Regen hatte zugenommen, ausserdem blies ihn mir der Wind jetzt auf dem Weg zurück auch noch in's Gesicht. Ich hasste die Welt. Jemand hinter mir rief etwas, ich drehte mich nicht um. Nochmal ein Rufen. Dann Ruhe. Kurz, bevor ich bei meinem Atelier angelangt war, zupfte mich jemand am Ärmel. Ungehalten drehte ich mich um. Es war die Bäckereiverkäuferin. Sie war mir durch den Regen hinterhergerannt, weil ich, als ich das Wechselgeld einsteckte, das sie mir auf meinen Zwanzig-Euro-Schein hingelegt hatte, den Zehn-Euro-Schein auf den Fußboden gewischt hatte, wo ihn der Kunde hinter mir aufgelesen hatte. Da stand diese junge Frau vor mir, mit pitschnassen Haaren, in ihrer nicht allso warmen Arbeitskleidung mit der gestreiften Schürze, und hielt mir das Geld hin. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte, eine Mischung aus Scham und Überraschung ließ mich nur ein "Vielen Dank!" herausnuscheln. Dann wollte ich zu einer ausführlicheren Entschuldigung ansetzen, aber sie meinte nur: "Schon gut, ich muß zurück in den Laden!" - und weg war sie. Während ich zurück in mein Atelier schlurfte, wurde aus dem Gefühl der Scham langsam ein Gefühl der Begeisterung darüber, dass es solche Menschen wie sie gibt. Die Sauerei im Atelier mußte weggewischt werden, aber das war nicht mehr so schlimm, denn irgendwie war ich gerade glücklich.
Am nächsten Tag fragte ich nach ihr und erfuhr, dass sie nur als Aushilfe für eine erkrankte Mitarbeiterin eingesprungen war. Ich hab sie seither nie wieder gesehen, diese gute, liebenswerte Frau.